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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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würde es hell werden, dann
würde sie rübermüssen, ins Schlafzimmer, in ihr Schlafzimmer.
    Ihr Vater hatte mich um die Verteidigung seiner Tochter gebeten. Ich holte
mir einen Besuchsschein. Der zuständige Staatsanwalt hieß Kaulbach, ein
kräftiger, klarer Mann, er sprach in kurzen Sätzen.
    »Scheußliche Sache«, sagte er. »Bei uns gibt es nicht viele Morde. Der hier
ist glasklar.«
    Kaulbach zeigte mir die Tatortfotos.
    »Sie hat ihren Mann mit einer Statue erschlagen. Er hat geschlafen.«
    »Ob er geschlafen hat, kann die Rechtsmedizin nicht feststellen«, sagte ich
und wusste, dass das kein gutes Argument war.
     
    Das Problem war einfach. Ein Totschlag unterscheidet sich vom Mord nicht
durch »Vorsatz«, wie es in den Fernsehkrimis heißt. Jeder Mord ist ein
Totschlag. Aber er ist auch mehr. Es muss etwas hinzukommen, was ihn zum Mord
macht. Diese Mordmerkmale sind nicht beliebig, sie stehen im Gesetz. Der Täter
tötet »zur Befriedigung des Geschlechtstriebes«, aus »Habgier« oder aus anderen
»niedrigen Beweggründen«. Es gibt auch Worte, die beschreiben, wie er tötet, zum Beispiel
»heimtückisch« oder »grausam«. Wenn der Richter meint, ein solches Merkmal
liege vor, kann er nicht anders: Er wird den Täter zu einer lebenslangen
Freiheitsstrafe verurteilen. Beim Totschlag bleibt ihm die Wahl, er kann dem
Täter zwischen fünf und fünfzehn Jahren geben.
     
    Kaulbach hatte recht. Wenn ein Mann im Schlaf erschlagen wird, kann er sich
nicht wehren. Er weiß nicht, dass er angegriffen wird, er ist hilflos. Der
Täter handelt also heimtückisch. Er begeht einen Mord, er wird lebenslänglich
bekommen.
    »Schauen Sie sich die Bilder an«, sagte Kaulbach. »Der Mann lag auf dem
Rücken. An seinen Händen sind keine Abwehrspuren. Die Decke liegt ordentlich
auf ihm. Es hat keinen Kampf gegeben. Niemand kann daran zweifeln: Er hat geschlafen.«
    Der Staatsanwalt wusste, was er sagte. Es sah so aus, als wäre der Sockel
der Statue dem Mann ins Gesicht gestampft worden. Überall waren Blutspritzer,
selbst auf dem Foto auf dem Nachttisch. Die Schöffen würden die Bilder nicht
mögen.
    »Und außerdem hat Ihre Mandantin heute ein Geständnis abgelegt.«
    Das wusste ich noch nicht. Ich fragte mich, was ich in diesem Verfahren
sollte. Ich würde nichts für sie tun können.
    »Vielen Dank«, sagte ich. »Ich besuche sie jetzt. Wir können danach
nochmals reden.«
     
    Alexandra lag im Haftkrankenhaus. Sie lächelte, wie man einen fremden
Besuch im Krankenhaus anlächelt. Sie setzte sich auf und zog einen Bademantel
an. Er war zu groß, sie sah verloren aus. Der Boden war aus Linoleum, es roch
nach Desinfektionsmittel, von dem Waschbecken war eine Kante abgeplatzt. Neben
ihr lag eine andere Frau, ihr Bett war nur durch einen gelben Vorhang abgetrennt.
    Ich saß drei Stunden in ihrem Zimmer. Sie erzählte ihre Geschichte. Ich
ließ ihren geschundenen Körper fotografieren. Der medizinische Bericht war
vierzehn Seiten lang, Milz und Leber waren gerissen, beide Nieren gequetscht,
unter der Haut großflächige Einblutungen. Zwei Rippen waren angebrochen, sechs
weitere zeigten alte Brüche.
     
    Drei Monate später begann die Hauptverhandlung. Der Vorsitzende Richter
stand kurz vor seiner Pensionierung. Hageres Gesicht, Bürstenschnitt, graue
Haare, randlose Brille - er passte nicht in den neuen Saal. Ein Innenarchitekt
hatte ihn im Stil der damaligen Zeit mit hellgrünen Sitzschalen aus Plastik und
weißen Resopaltischen ausgestattet, er sollte so etwas wie eine demokratische
Justiz darstellen. An den Strafen hatte das nichts geändert. Der Vorsitzende
ließ die Sache aufrufen, er stellte die Anwesenheit der Prozessbeteiligten
fest. Dann unterbrach er die Verhandlung, die Zuschauer wurden nach draußen geschickt,
Alexandra zurück in die Vorführzelle gebracht. Er wartete, bis es ruhig war.
    »Ich sage es Ihnen offen, meine Damen und Herren«, sagte er. Er sprach
schleppend, es klang müde. »Ich weiß nicht, was wir machen sollen. Wir werden
die Hauptverhandlung durchführen und die Akten nachvollziehen. Aber ich will
die Angeklagte nicht verurteilen, sie hat zehn Jahre unter diesem Mann
gelitten, er hat sie fast totgeschlagen. Er hätte sich wahrscheinlich als
Nächstes an dem Mädchen vergriffen.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. In Berlin hätte die
Staatsanwaltschaft sofort den Richter wegen Befangenheit abgelehnt, ein so
offenes Wort zu Beginn einer Hauptverhandlung wäre undenkbar. Hier auf dem

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