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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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die Bilder
aus den Kunstbüchern zu begreifen, und langsam ahnte er, dass er nicht allein
war.
     
    Die ersten Wochen demütigten sie ihn
ohne Plan. Er musste ihre Schuhe putzen und für sie Süßigkeiten im Dorf kaufen.
Henry tat, was sie ihm befahlen. Dann kam Fasching, die Schüler hatten, wie
jedes Jahr, drei Tage frei, aber für die meisten war es zu weit, um nach Hause
zu fahren. Sie langweilten sich, und für Henry wurde es schlimmer. Zu dem
Kloster gehörte ein weiteres Gebäude, zur Zeit der Mönche war das Schlachthaus
dort untergebracht gewesen, zwei Räume, bis zur Decke gelb gekachelt. Es stand
lange schon leer, aber es gab noch die alten Hackblöcke, und im Boden waren
die Blutrinnen eingelassen.
     
    Er musste sich nackt auf einen Stuhl
setzen, und die drei Jungen gingen um ihn herum und schrien ihn an, er sei ein
Schwein, ein Dieb und ein Verräter an ihrer Gemeinschaft, er sei Müll und hässlich.
Sie redeten über seine Akne und seinen Penis. Sie schlugen ihn mit nassen
Handtüchern, er durfte sich nur auf den Knien bewegen, oder sie ließen ihn auf
dem Bauch kriechen, und immer musste er wiederholen: »Ich habe große Schuld
auf mich geladen.« Sie zwangen ihn in eine Fleischertonne aus Eisen, sie
schlugen auf das Metall, bis er fast taub war, und sie redeten darüber, was sie
nur mit dem elenden Tier machen sollten. Kurz vor dem Abendessen hörten sie
auf. Danach waren sie freundlich zu ihm und sagten, er solle sich wieder
anziehen, sie würden am nächsten Wochenende weitermachen, jetzt aber dürften
sie nicht zu spät zum Abendessen kommen.
    An diesem Abend schrieb einer von
ihnen nach Hause, er schrieb, wie die Woche gewesen sei, dass er sich auf die
Ferien freue, er nannte seine Noten in Englisch und Mathematik. Die beiden
anderen spielten Fußball.
    Henry ging nach dem Abendessen noch
einmal ins alte Schlachthaus. Er stand im Halbdunkel, er wartete, aber er wusste
nicht, auf was er wartete. Er sah durch die Fenster die Straßenlaterne, er
dachte an seine Mutter und daran, wie er einmal Schokolade im Auto gegessen
hatte und an die Sitze geschmiert hatte. Als sie es entdeckt hatte, hatte sie
geschimpft. Damals hatte er den Wagen den ganzen Nachmittag geputzt, nicht nur
die Sitze, sondern auch außen, auch die Reifen hatte er mit einer Bürste
geschrubbt, bis das Auto geglänzt und sein Vater ihn gelobt hatte. Und plötzlich
zog er sich aus, er legte sich auf den Boden und breitete die Arme aus, er
spürte, wie die Kälte der Steinplatten in seine Knochen stieg. Er schloss die
Augen und hörte auf nichts als seinen Atem. Henry war glücklich.
     
    »... aufgefahren in den Himmel, er sitzt zur Rechten Gottes, des
allmächtigen Vaters, von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die
Toten ...«
    Es war die Karfreitagsliturgie, zu
der die Schüler des Internats in die Dorfkirche gehen mussten.
    Ursprünglich war es eine
Marienkapelle gewesen, heute eine Barockkirche voller Gold, falschem Marmor,
Engeln und Madonnen.
    Henry hatte hier längst alles
gezeichnet, aber heute sah er nichts. Er tastete nach dem Zettel in seiner
Hosentasche. »Hodie te illuminatum inauguramus« stand dort, »heute weihen wir
dich zum Illuminaten.« Er hatte darauf gewartet, der Zettel bedeutete ihm
alles, er hatte ihn heute Morgen auf seinem Nachttisch gefunden. Unter dem lateinischen
Text stand: »20 Uhr. Altes Schlachthaus.«
    »... und vergib uns unsere Schuld ...«
    »Ja«, dachte er, »meine Schuld wird
heute vergeben.« Er atmete so laut aus, dass sich ein paar Jungen nach ihm
umdrehten. Sie waren bereits beim Vaterunser, die Liturgie würde gleich enden.
»Meine Schuld wird vergeben«, sagte er halblaut und schloss die Augen.
     
    Henry war nackt und musste sich die
Schlinge selbst um den Hals legen. Die anderen hatten schwarze Kutten an, die
sie in einem vergessenen Schrank auf dem Speicher gefunden hatten, rauhe
Mönchskleidung und Cilicia, Büßerhemden aus Ziegenhaar, die schon lange niemand
mehr trug. Sie hatten Kerzen aufgestellt, das Licht spiegelte sich in den
blinden Fenstern. Henry konnte die Gesichter der Jungen nicht mehr erkennen,
aber er sah alle Einzelheiten: Er sah den Stoff der Kutten, er sah die Fäden,
mit denen die Knöpfe angenäht waren, er sah die rot gemauerten Einfassungen
der Fenster, das herausgebrochene Schloss der Tür, den Staub auf den Stufen,
den Rost des Treppengeländers.
    Sie banden ihm die Hände auf den
Rücken. Mit Wasserfarbe aus dem Kunstunterricht malte einer der

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