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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schuld
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Handschellen
an und führten ihn aus dem Haus. Miriam starrte auf den Haftbefehl, sie hatte
noch ihren Pyjama an, den er so gerne mochte. »Kindesmissbrauch in 24 Fällen«,
sie kannte den Namen des Mädchens aus ihrer Klasse in der Grundschule. Sie
stand mit einem Beamten in der Küche, als zwei der Uniformierten Holbrecht den
schmalen Weg runter zum Streifenwagen brachten. Die Buchsbaumhecke hatte sie
letztes Jahr gepflanzt; das Jackett, das sie ihm zu Weihnachten geschenkt
hatte, hing irgendwie schief an seinen Schultern. Der Polizist sagte, die
meisten Ehefrauen würden nichts ahnen. Es sollte tröstlich klingen. Dann
durchsuchten sie das Haus.
     
    Es wurde kein langer Prozess.
Holbrecht stritt alles ab. Der Richter hielt ihm vor, dass auf seinem Computer
Pornos gefunden worden seien. Zwar seien keine Kinder zu sehen, die Filme seien
legal, aber die Frauen seien noch sehr jung, eine hätte fast keine Brust. Der
Richter war 63 Jahre alt. Er glaubte dem Mädchen. Sie sagte, Holbrecht habe sie
immer auf dem Nachhauseweg abgefangen. Er habe sie »da unten« angefasst, sie
weinte bei ihrer Aussage. Es sei auf der Terrasse seines Hauses passiert. Ein
anderes Mädchen bestätigte alles, sie habe es zweimal sogar selbst gesehen. Die
Mädchen beschrieben das Haus und den kleinen Garten.
    Miriam kam nicht zu der
Hauptverhandlung. Ihr Anwalt schickte die Scheidungspapiere in die
Untersuchungshaft. Holbrecht unterschrieb alles, ohne es zu lesen.
     
    Das Gericht verurteilte ihn zu
dreieinhalb Jahren. In der Urteilsbegründung stand, das Gericht habe keinen
Anlass, an der Aussage des Mädchens zu zweifeln. Holbrecht saß seine Strafe bis
zum letzten Tag ab. Der Therapeut hatte gewollt, dass er sich zu seiner Schuld
bekennt. Er hatte geschwiegen.
     
    Seine Schuhe waren vom Regen
aufgeweicht, Wasser war über die Ränder eingedrungen und hatte die Socken
durchnässt. Die Bushaltestelle hatte ein Plastikdach, aber Holbrecht stand lieber
draußen. Der Regen lief über seinen Nacken in den Mantel. Alles, was er hatte,
passte in den grauen Koffer, der neben ihm stand. Etwas Wäsche, ein paar
Bücher, rund 250 Briefe an seine Frau, die er nie abgeschickt hatte. In der
Hosentasche hatte er die Adressen seines Bewährungshelfers und einer Pension,
in der er vorerst unterkommen konnte. Er hatte das Überbrückungsgeld, das er
mit Gefängnisarbeit verdient hatte. Holbrecht war jetzt 42 Jahre alt.
     
    Die nächsten fünf Jahre verliefen
ruhig. Er lebte von dem, was er als wandelnde Litfaßsäule für ein
Touristenrestaurant bekam. Er stand unten auf dem Kurfürstendamm mit bunten
Bildern der Pizzen auf den Pappkartons. Er trug einen weißen Hut. Sein Trick
war, den Leuten ein wenig zuzunicken, wenn er ihnen die Werbezettel gab. Die
meisten nahmen ihn.
     
    Er wohnte in einer
Anderthalb-Zimmer-Wohnung in Schöneberg, sein Arbeitgeber schätzte ihn, er war
nie krank. Er wollte nicht von Sozialhilfe leben, und er wollte nichts anderes
tun.
     
    Er erkannte sie sofort. Sie musste
jetzt sechzehn oder siebzehn sein, eine junge Frau, sorglos, knappes T-Shirt.
Sie war mit ihrem Freund unterwegs. Sie aß ein Eis. Sie warf die Haare zurück.
Sie lachte. Sie war es.
     
    Er drehte sich schnell zur Seite,
ihm wurde schlecht. Er zog das Pappschild aus. Dem Restaurantbesitzer sagte
er, er sei krank. Er war so bleich, dass es keine Fragen gab.
    In der S-Bahn hatte jemand in den
Dreck auf der Scheibe geschrieben »ich liebe dich« und ein anderer »SAU«. Zu
Hause legte er sich in seinen Sachen auf das Bett, auf sein Gesicht breitete er
ein nasses Küchenhandtuch. Er schlief vierzehn Stunden. Dann stand er auf, machte
Kaffee und setzte sich ans geöffnete Fenster. Auf dem Vordach des
Nachbarhauses lag ein Schuh. Die Kinder versuchten ihn mit einem Stock zu
erreichen.
    Am Nachmittag traf er seinen Freund,
einen Obdachlosen, der in der Spree angelte. Er setzte sich neben ihn.
    »Es geht um eine Frau«, sagte
Holbrecht.
    »Es geht immer um eine Frau«, sagte
der andere.
    Dann schwiegen sie. Als der Freund
einen Fisch aus dem Wasser zog und auf dem Beton der Kaimauer totschlug, ging
er nach Hause.
    In der Wohnung sah er wieder aus dem
Fenster. Der Schuh lag immer noch auf dem Vordach. Er holte ein Bier aus dem
Eisschrank und presste die Flasche an seine Schläfe. Es war kaum kühler geworden.
    Sie war jeden Samstag über den
Kurfürstendamm an ihm und seinen Pappschildern vorbeigegangen. Er nahm sich
die Wochenenden frei und wartete. Wenn sie kam,

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