von Schirach
Jungen ein
rotes Pentagramm auf Henrys Brust, ein Bannzeichen gegen das Böse, sie hatten
das so auf einem Stich gesehen. Das Seil um seinen Hals zogen sie über die
alte Seilwinde an einem Deckenhaken hoch. Henry berührte mit den Zehen kaum
noch den Boden. Einer der Jungen las laut den großen Exorzismus vor, das Rituale
Romanum, päpstliche Handlungsanweisungen in lateinischer Sprache, geschrieben
1614. Seine Worte hallten in dem Raum, keiner von ihnen verstand sie. Die
Stimme des Jungen überschlug sich, er war von sich selbst ergriffen. Sie
glaubten wirklich, ihn von seinen Sünden zu reinigen.
Henry fror nicht. Dieses Mal, dieses
eine Mal hatte er alles richtig gemacht, sie konnten ihn nicht mehr ablehnen.
Einer der Jungen schlug zu, die Peitsche hatte er selbst hergestellt, er hatte
Knoten in das Leder geknüpft. Es war kein harter Schlag, aber Henry verlor den
Halt. Das Seil war aus Hanf, es schnitt in seinen Hals und nahm ihm die Luft,
er strauchelte, seine Zehen fanden den Boden nicht mehr. Und dann bekam Henry
eine Erektion.
Ein Mensch, der langsam erhängt
wird, erstickt. In der ersten Phase schneidet das Seil in die Haut, Halsvenen
und -arterien werden verschlossen, das Gesicht verfärbt sich blau-violett. Das
Gehirn wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, nach etwa zehn Sekunden
schwindet das Bewusstsein, und nur wenn die Luftzufuhr nicht vollständig
unterbrochen wird, dauert es länger. In der nächsten Phase, die etwa eine
Minute dauert, zieht sich die Atemmuskulatur zusammen, die Zunge tritt aus dem
Mund, Zungenbein und Kehlkopf werden verletzt. Dann kommen die Krämpfe, heftig
und unkontrollierbar, Beine und Arme zucken acht- bis zehnmal, oft zerreißen
die Halsmuskeln. Plötzlich scheint der Erhängte ruhig, er atmet nicht mehr, und
nach ein, zwei Minuten beginnt die letzte Phase, der Tod ist jetzt kaum mehr
abzuwenden. Der Mund öffnet sich, der Körper schnappt nach Luft, nur einzelne
hechelnde Züge, nicht mehr als zehn in der Minute. Aus Mund, Nase und Ohren
kann Blut austreten, das Gesicht ist jetzt aufgedunsen, die rechte Herzkammer
erweitert. Nach etwa zehn Minuten tritt der Tod ein. Erektionen während des
Hängens kommen nicht selten vor: Im fünfzehnten Jahrhundert glaubte man, die
Alraune, ein Nachtschattengewächs, entstünde aus dem Sperma der Gehenkten.
Aber die jungen Männer wussten
nichts über den Körper des Menschen. Sie verstanden nicht, dass Henry gerade
starb, sie glaubten, die Schläge erregten ihn. Der Junge, der die Peitsche
hatte, wurde wütend, er schlug härter und brüllte etwas, was Henry nicht mehr
verstand. Er hatte keine Schmerzen. Er dachte daran, wie er als Kind ein
angefahrenes Reh neben einem Feldweg gefunden hatte. Es hatte im Schnee und im
Blut gelegen, und als er es hatte berühren wollen, hatte es den Kopf
herumgerissen und ihn angestarrt. Jetzt war er einer von ihnen. Seine Schuld
war getilgt, er würde nie wieder alleine sein, er war gereinigt, und endlich
war er frei.
Der Weg vom Haus der Lehrerin zur
einzigen Tankstelle im Dorf führte zwischen Kloster und altem Schlachthaus
vorbei. Sie wollte dort Zigaretten kaufen und fuhr mit dem Fahrrad. Sie sah
das Licht der Kerzen im Schlachthaus. Sie wusste, dass sich dort niemand
aufhalten durfte. Sie war ihr ganzes Leben Lehrerin gewesen, sie hatte Kinder
beaufsichtigt, erzogen, und vermutlich war es diese Verantwortung, die sie
anhalten und die fünf ausgetretenen Stufen hinaufsteigen ließ. Sie öffnete die
Tür. Sie sah die Kerzen, sie sah Henry, nackt, mit steifem Penis, halb erhängt
in der Schlinge, und sie sah die drei Jungen in Mönchskutten, einer hatte eine
Peitsche in der Hand. Sie schrie, wich einen halben Schritt zurück, verfehlte
die Stufe, verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Nacken auf die Kante des
letzten Absatzes. Ihr Genick brach, sie war sofort tot.
Das Seil um Henrys Hals war an einer
Eisenkette befestigt, die über eine Rolle an der Decke zur Seilwinde lief. Als
er die Lehrerin schreien hörte, ließ der Junge los, das Seil gab nach, Henry
fiel zu Boden. Die schwere Kette raste über die Rolle, sie riss den Putz von der
Decke, ihre Wucht zerschlug eine Steinplatte neben Henrys Kopf. Während die
Jungen ins Internat rannten und Hilfe holten, blieb Henry liegen, dann zog er
langsam die Beine an, er atmete, und als er die Augen öffnete, sah er die
umgekippte Handtasche der Lehrerin im Eingang liegen.
Der Internatsleiter hatte mich über
die Vermittlung des
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