Von Tod und Wiedergeburt (German Edition)
Buddhismus und andere Erfahrungsreligionen wie Hinduismus und Taoismus von einem beständigen Kreislauf des Werdens und Vergehens (Kreislauf des Lebens) aus.
Die Welt ist nicht die Schöpfung einer höheren Macht oder etwas objektives Äußeres, sondern wird durch Wahrnehmung und Handlungen laufend geschaffen, weswegen man sich durch die Entwicklung einer überpersönlichen Einsicht befreien kann. Statt nach einem Sündenfall oder einem Schuldigen für die Widerwärtigkeiten des Lebens zu suchen und auf etwas Jenseitiges zu hoffen, schaut man auf die gegebenen Umstände und Wirkungen und zielt auf die Entwicklung von dem, was ist, sowohl im Leben als auch darüber hinaus. Dementsprechend findet man handfesten Rat zum Meistern des Lebens und des Sterbens und zu einer glücklichen Wiedergeburt im Allgemeinen in den Erfahrungsreligionen und hier im Besonderen im tibetischen Buddhismus.
Um das Verständnis für die verschiedenen Zustände und Verhaltensweisen des Geistes zu erleichtern, unterteilen die buddhistischen Belehrungen den Kreislauf des Lebens. Er besteht zwar aus einer beständigen Kette von aneinanderhängenden Augenblicken, lässt sich aber in Zwischenzustände gliedern. Solche Zwischenzustände von einem bestimmten Anfangspunkt bis zu einem bestimmten Endpunkt werden mit dem Begriff »Bardo« bezeichnet. Wörtlich übersetzt bedeutet er »Lücke« oder »zwischen«. Es gibt unendlich viele solcher Bardos, denn alles verändert sich ständig. So gesehen, befindet man sich – bis zur Erleuchtung – stets im Übergang von einem Zustand zum anderen. Allgemein verstanden bezeichnet Bardo den Zwischenzustand zwischen dem jetzigen Leben und der Wiedergeburt in das darauffolgende Leben. Nur der Zustand, in dem der Wissende seine eigene Zeitlosigkeit erkennt – Befreiung oder Erleuchtung –, ist kein Bardo.
Im Tibetischen Totenbuch spricht man an manchen Stellen von nur zwei Bardos: dem des Lebens und dem des Todes; an anderen Stellen aber auch von vier: dem des Lebens, des Sterbens, der Soheit und des Werdens. Bei noch genaueren Erklärungen werden im Zwischenzustand des Lebens noch zwei weitere unterschieden, so dass man insgesamt von sechs Bardos spricht: dem Bardo des Wachzustands, des Traumes, der Meditation, des Sterbens, der letztendlichen Natur und des Werdens. [10]
Die sechs Bardos entsprechen drei immer wiederkehrenden Bewusstseinszuständen von der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Sterbeprozess unwiderruflich eingesetzt hat, und drei aufeinanderfolgenden Zwischenzuständen, die sich zwischen dem Sterben und dem nächsten Leben abspielen.
Abb. 1 Kreislauf des Lebens
Bardo des Lebens (sanskr.: jatyantarabhava, tib.: rangzin bardo): Im Wachzustand arbeitet jeder mit der gemeinsam erfahrenen Sinneswelt durch Körper, Rede und Geist. Man ist bewusst, kann denken und überlegt handeln. Die Welt wird als fest und logisch erlebt. Während des Tages wird eine gemeinsame, wenn auch von der eigenen Einstellung gefärbte Welt erfahren. Das Geteilte ist, was die Reichweite unserer Sinne und die Offenheit der jeweiligen Kultur an Erfahrungen zulassen, und das Eigene ist der »Dreh«, den man ihr durch eigene Wünsche und Erwartungen gibt. In dieser Zeit kann man bewusst sein Leben verändern, steuern und mit seinem Geist arbeiten (vgl. die Kapitel »Die Wege zum Glück« und »Die Wiedergeburt«). Mit Hilfe buddhistischer Mittel kann man sich hier am besten für die Zukunft und somit auf alle anderen Zwischenzustände vorbereiten.
Bardo des Traumes (sanskr.: svapanantarabhava, tib.: milam bardo): Die Traumphasen während des Schlafes werden als zweites Bardo innerhalb des Bardos des Lebens bezeichnet. Dazu gehören auch Rauschzustände durch nicht psychedelische Drogen oder Alkohol. Im Traum werden während dreier nächtlicher Abschnitte drei Arten von Erfahrungen gemacht: Zuerst werden die Eindrücke des Tages verarbeitet, danach können körperliche Erfahrungen während des Tiefschlafes aufkommen, und kurz vor dem Aufwachen ist der Geist mitunter offen für in Kürze erscheinende Geschehnisse, während beim ungestörten Durchschlafen Vorausschauungen auf die in der Ferne liegende Zukunft möglich sind. Er wird als genauso wirklich erlebt wie die Tageswelt, obwohl Dinge völlig frei und unabhängig von Zeit, Ort und Körper geschehen, nicht mit anderen geteilt werden, nur den Geist betreffen und auch nicht in Zeitfolge ablaufen. Im Tiefschlaf, in dem das Bewusstsein in der Körpermitte
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