Von Traeumen entfuehrt (eShort)
von selbst, denn eine Woche später ist sie weg. Einfach so verschwunden, über Nacht. Und ein Teil von Vincent ist mit ihr gegangen. Zufälligerweise taucht Vincent während der zwei Tage pro Monat, die wir Revenants gemeinhin volant sind, immer wieder ab. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wo er dann ist. Geistert in dem verlassenen zweiten Stockwerk eines gewissen Apartmenthauses herum. Aber er verliert nie ein Wort darüber und ich frage nicht nach. Er zieht sich nur immer weiter in sich zurück, wird jeden Tag distanzierter.
Im März und April haben wir viel zu tun. Greifen bei mehreren Selbstmordversuchen ein (wobei wir bei einem leider zu spät kommen), verhindern mehrere Autounfälle und retten ein paar Menschen, bevor sie unseren Feinden, den Numa, zum Opfer fallen können. Und während all dieser Aktionen ist Vincent gar nicht richtig da, man kann ihm förmlich ansehen, wie er an das traurige Mädchen denkt.
Ich bin mir also gleich sicher, dass irgendwas vorgefallen sein muss, als Vincent Anfang Juni von einer Patrouille mit Charlotte heimkehrt und dabei strahlt wie der Eiffelturm. »Was ist los?«, will ich flüsternd von Charlotte wissen und beobachte dabei, wie Vincent durch die Küche schwebt, als wären seinen Chucks plötzlich Flügel gewachsen.
»Ein Mädchen. Eine Sterbliche«, sagt sie.
»Lange, dunkle Haare, relativ blass, blaugrüne Augen?«, frage ich.
»Genau die«, bestätigt Charlotte und wirft Vincent einen verstohlenen Blick zu, der sich gerade vergnügt massenweise Zucker in den Kaffee schaufelt.
Am nächsten Tag bin ich mit Vincent unterwegs, als sich unser Weg in der Nähe ihres Zuhauses mit dem ihren kreuzt, und letzten Endes folgen wir ihr von dort bis zu dem Kino in der Rue Champollion. Sie hat sich verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Farbe hat sie bekommen und sieht nicht länger wie ein Skelett aus. Offensichtlich hat sie wieder Appetit, und das steht ihr ganz wunderbar. Sie ist noch immer traurig, aber definitiv gefasster.
»Gut, wir haben sie sicher ins Kino gebracht. Können wir jetzt weiter?«
»Hast du den Film Les quatre cents coups schon mal gesehen?«, fragt Vincent, die Unschuld in Person.
»Nur so um die fünfzig Mal. Vielleicht erinnerst du dich ja noch dunkel daran, dass wir 1959 zusammen bei der Premiere waren? Und nein, mein Lieber, wir werden ihr nicht hineinfolgen, nur damit wir anderthalb Stunden lang ihren Hinterkopf anstarren können.«
Anderthalb Stunden später verlassen wir das Kino und blinzeln im Sonnenlicht, während das Mädchen vor uns nach Hause läuft.
»Weißt du was?«, frage ich und versuche nicht mal, meinen Sarkasmus zu kaschieren. »Der Film hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht das geringste Bisschen verändert.«
Vincent schiebt die Hände in die Hosentaschen, nimmt seine typische, leicht gekrümmte Haltung ein und folgt dem traurigen Mädchen auf dem Boulevard Saint-Michel. Ich greife nach seinem Arm, bringe ihn abrupt zum Stehen. »Vince, es reicht. Das nimmt langsam echt ungesunde Formen an, mein Freund. Ich will den anderen ja eigentlich nichts sagen, aber … wenn du dich nicht allmählich mal am Riemen reißt, muss ich mit Jean-Baptiste sprechen.«
Er fixiert mich. In seinen Augen liegt dieser schwermütige, gequälte Blick, als würde er innerlich vergehen. »Jules, ich komm nicht dagegen an.«
Ich atme laut aus. »Schon gut, Mann. Aber wir lassen sie jetzt allein nach Hause gehen, ihr wird schon nichts passieren. Komm, wir sehen uns mal im Schlosspark um.« Also folgt er mir zum Jardin du Luxembourg und sieht dabei aus wie ein kleiner Junge, der bestraft worden ist, aber tapfer tut.
In den folgenden Wochen verfolgt er sie nicht, oder zumindest nicht, wenn ich in der Nähe bin. Und ich will weder Charles noch Charlotte und selbst Ambrose nicht fragen, wo er mit ihnen hingeht. Ich möchte ihre Aufmerksamkeit nicht darauf lenken. Denn wenn Jean-Baptiste das herausfindet, wird er Vincent nicht mehr in Ruhe lassen, und wir wissen alle, wie unangenehm das ist.
Und dann passiert es. Wir sitzen an unserem üblichen Tisch im Café Sainte-Lucie, Ambrose ist auch mit von der Partie, als sich Vincents Lippen langsam zu einem Lächeln verziehen. Ich drehe mich um, folge seinem Blick und entdecke das traurige Mädchen, lesend, an einem Tisch in der Ecke. Sie hat einen total entrückten Gesichtsausdruck, während sie liest. Als gäbe es nichts Schöneres, als draußen zu sitzen und ein Buch Seite für Seite zu
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