Von Zwanzig bis Dreißig
in einem echten alten Potsdamer Hause, das noch ganz den Stempel Friedrich Wilhelms I. trug. Er hatte sich alles sehr wohnlich zurechtgemacht, und sein Arbeitszimmer, das bei großer Tiefe nach hintenzu jede Lichtabstufung zeigte, konnte als ein Ideal in seiner Art gelten. In allem etwas prinzipienreitrig, war er denn auch unentwegt der Mann des Stehpults geblieben, also einer Stellage von gut berechneter Höhe, darauf er alles zur Hand hatte, was er brauchte, besonders auch ein Glas mit kaltem russischem Tee. So fand ich ihn regelmäßig vor, in Nähe des Pults ein langer Tisch, darauf zahllose Zeitungen teils aufgetürmt, teils ausgebreitet lagen. Er empfing mich immer gleich liebenswürdig, spielte nie den Gestörten oder wohl gar den »in seinen Gedanken Unterbrochenen« und gab mir Aufschluß über das Mannigfaltigste, besonders über Reiserouten, wobei er's nur in dem einem versah, daß er mich immer dahin dirigieren wollte, wo vorher noch niemand gewesen war. Dies Auf-Entdeckungen-Ausziehn hätte ja nun sehr gut und für mich sehr verführerisch sein können; aber er hatte dabei nur den Sinn für eine herzustellende möglichste Vollständigkeit des Materials –
wie
das Material schließlich ausfiel, war ihm gleichgültig,
mir
aber keineswegs. Er ging durchaus nicht dem Interessanten oder Poetischen nach, und deshalb konnte ich von seinen Direktiven nur sehr selten Gebrauch machen. Er war noch aus jener merkwürdigen märkisch-historischen Schule, der die Feststellung einer »Kietzer Fischereigerechtigkeit« die Hauptsache bleibt.
Wenn wir dann so eine kleine halbe Stunde geplaudert hatten – eine Aufforderung zum Bleiben erging nie –, erschien Frau Geheime Hofrätin Schneider aus ihrer an der andern Flurseite gelegenen Kemnate, um durch ihren Eintritt sowohl dem Gaste wie auch ihrem Ehemann anzudeuten, »es sei nun genug«. Sie war immer sehr sorglich gekleidet, von einer ausreichenden, aber doch sehr reservierten Artigkeit, und trug Allüren zur Schau, wie man sie jetzt kaum noch findet und die, vielleicht um ebendieses Hingeschwundenen willen, den Reiz eines kulturbildlichen Interesses für mich gewahrt haben. Nach Abstammung und Naturanlage war Frau Geheime Hofrätin Schneider lediglich dazu bestimmt, der Typus einer stattlichen Bourgeoise zu werden; ihr Lebensgang am Theater aber hatte Sorge dafür getragen, ihr noch einen Extranimbus zu geben und dadurch jene feine Nebenspezies herzustellen, deren sich manche jetzt alten Berliner aus ihren jungen Tagen her wohl noch erinnern werden. Alle Berliner Schauspielerinnen und Sängerinnen, namentlich aber Tänzerinnen, deren Lebensweg also mehr oder weniger einer perpetuellen Revue vor den Augen Seiner Majestät geglichen hatte, hatten unter diesem königlichen Augeneinfluß ein Selbstbewußtsein ausgebildet, das sich in den leichteren Fällen bis zu einer einen gesellschaftlichen Unterschied stark markierenden Würde, in den schwereren Fällen bis zu eiskalter Unnahbarkeit steigerte. Die natürliche Grundlage blieb aber doch »die Berliner Madam«, ein Etwas, das die Welt nicht zum zweiten Male gesehn. Frau Schneider übrigens, wie hier huldigend bemerkt sein mag, war von der milderen Observanz; sie war noch nicht absolut vergletschert, sie hatte noch ein Lächeln.
Aber trotz dieses Lächelns, ihr Erscheinen, wie schon angedeutet, bedeutete doch jedesmal Rückzugsnotwendigkeit, der ich denn auch rasch gehorchte. Tags darauf erhielt ich meist ein Buch oder eine Zeitschrift, die den vielleicht ungünstigen Eindruck einer durch äußere Einflüsse etwas rasch abgebrochenen Verhandlung wieder begleichen sollte.
Mehr noch als von Schneiders literarischen Beihülfen hab' ich aber von seinen Geschichten und Anekdoten gehabt, denen ich immer ein sehr offenes Ohr entgegenbrachte. Wer ein bißchen das Leben kennt, wird wissen, daß man nach dieser Seite hin von den poetisch Geistreichen oder gar den »literarischen Leuten« als solchen meistens nicht viel hat, sehr viel aber von den spezifisch Prosaischen. Schneider glich einem Abreißkalender, auf dem von Tag zu Tag immer was Gutes steht, was Gutes, das dann den Nagel auf den Kopf trifft. »Ja, mit dem schlechten Theater«, so hieß es in einem dieser Gespräche, »wie oft hab' ich diese Klage hören müssen! Da hab' ich denn, weil mir's zuletzt zuviel wurde, die Berliner Zeitungen seit Anno I787 vorgenommen und kann es nun belegen, daß in jedem Jahr regelmäßig gesagt worden ist: ›
So
schlecht sei das Theater
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