Von Zwanzig bis Dreißig
Lucae der Sanspareil und mußte es bleiben, weil Witz, erzählerische Begabung und Schauspielerkunst bei ihm zusammenwirkten und sich untereinander unterstützten. Was er erzählte, war immer eine dramatische Szene, darin er die redenden Personen in ihrer Sprache einführte: Bildungsphilister, Berliner Madames, zimperliche alte Jungfern, übermütige Backfische, gelehrt und wichtig tuende Professoren und aus dem nächsten Familienanhang allerhand Onkels und Tanten. Unter den Tanten war eine ganz alte, von der er viel Rühmens machte, weil er ihr, neben allerhand komischen Zügen, auch den wirklichen Weisheitsspruch verdankte: »Man lebt sich selbst, man stirbt sich selbst.« Im Kreise der Onkels dagegen stand Hauptmann Unger obenan, gewöhnlich kurzweg »Onkel Unger« genannt, ein Bildersammler und guter Kunsthistoriker, den seine Kunstwissenschaft jedoch nicht hinderte, seine für minimale Preise gekauften »Niederländer« unter sehr maximalen Namen auszustellen. Dieser Onkel Unger hatte seinem Neffen – der übrigens nur sein Adoptivneffe war – von Jugend an die größte Zuneigung bewiesen, ja ihn halb erzogen, war aber doch nebenher von so heftiger und exzentrischer Eigenart, daß er, als Lucae mal einen Zweifel hinsichtlich der vielen »Teniers« geäußert hatte, seinen geliebten Richard ohne weiteres auf krumme Säbel fordern ließ. Es kostete viel Mühe, den alten Berserker, der schon zwischen fünfzig und sechzig war, davon abzubringen.
Alle diese, der mittleren bürgerlichen Sphäre zugehörigen Personen waren in ihrer künstlerischen Vorführung wahre Kabinettsstücke, Lucaes glänzendste Leistungen aber lagen doch mehr nach beiden
Flügeln
rechts und links hin und waren einerseits ungarische Mikosch-Magnaten, russische Generäle, die Deutschland auf Musik bereisten, imbezile Prinzen mit Kunstallüren – besonders wenn sie nebenher noch stotterten – und andererseits alte Polizeiwachtmeister, Frölens mit Mopsbegleitung und namentlich Pennbrüder. In solchen Gestalten aus dem Volksleben war er in der bunten Reihenfolge seiner Geschichten unerschöpflich. Eine dieser Geschichten habe ich viele Male von ihm gehört und womöglich mit immer sich steigerndem Genuß. Es war die Darstellung eines armen, angesäuselten Bummlers, der in einen Omnibus steigt, und als er zahlen will, seinen Groschen verliert und nun unter rührender Teilnahme des ganzen Publikums nach diesem Groschen zu suchen beginnt, bis er zuletzt, weil die Abfahrtszeit schon weit überschritten ist, doch wieder heraus und an die Luft muß. Ich war jedesmal, während ich Tränen lachte, doch auch wieder von einem tiefen Mitgefühl mit dem armen Kerl erfüllt, der bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgeben wollte.
Solche, abwechselnd mit Karikaturen aus dem high life und dann wieder mit Bummlern und Rowdies sich beschäftigenden Geschichten waren seine Spezialität, aber ebenbürtig daneben standen seine Kinder- und Schauspielergeschichten. Wenn ich sage Schauspielergeschichten, so ist das nicht ganz richtig, denn er erzählte nicht etwa die herkömmlichen Theateranekdoten; alles, was er gab, waren vielmehr nur ganz alltägliche Begegnungen mit zur Bühne gehörigen Personen. Mit Berndal war er jahrelang auf der Schule zusammen gewesen; immer auf derselben Bank, und so nahmen sie sich gegenseitig nichts übel. Jedesmal wenn sie sich trafen und eine Strecke miteinander gingen, sagte Lucae: »Berndal, ich weiß nicht, du sprichst immer noch so theatermäßig mit mir; sprich doch mal wie ein Mensch«, worauf dann Berndal mit derselben Regelmäßigkeit antwortete: »Lucae, du bist immer noch so komisch wie damals.« Neben Berndal stand Dessoir, und die lugubren, immer gerade die schlimmsten Trivialitäten begleitenden Dessoirschen Töne durch Lucae nachgeahmt zu hören, war jedesmal ein Hochgenuß. Einmal traf es sich, daß Dessoir und Lucae gemeinschaftlich von Hamburg nach London fuhren. Sie schritten auf Deck auf und ab. »Kennen Sie London?« fragte Dessoir. – »Nein.« – »Nun, da gehen Sie dem Wunderbarsten entgegen. London, um nur eines zu nennen, hat dreitausend Omnibusse,
wir
haben deren fünfzig.« Außer Berndal und Dessoir zählte zu Lucaes Lieblingsfiguren ein Herr von Lavallade, den er nicht müde wurde, sich in einer im schnarrendsten Leutnantsjargon an eine Heldenschar gerichteten Ansprache dem Tode weihen zu lassen. Er wußte bei Vorführung solcher Szenen immer ganz wundervoll den
Ton zu
treffen, aber das, worauf es ihm
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