Voodoo
Tick mit seinen Haaren. Wir haben ihn Samson genannt, weil er niemanden an seine Haare heran ließ. Er ist schon mit vollem Haar geboren worden, was recht ungewöhnlich ist. Er hatte sogar Haare im Gesicht, fast wie eine Glückshaube. Ich vergesse nie, wie er gebrüllt hat, als sie ihm im Krankenhaus die Haare schneiden wollten – es war ohrenbetäubend, ein Geheul wie vor Schmerzen. Beängstigend. Und genauso war es immer, wenn ihm jemand mit einer Schere zu nahe kam. Also haben wir es gelassen. Irgendwann wird sich das von selbst erledigen«, sagte Carver.
»Oder auch nicht«, entgegnete Max platt.
Für einen kurzen Augenblick glaubte er, eine Veränderung in Carvers Gesicht wahrzunehmen, einen Hauch von Menschlichkeit. Nicht genug, dass Max sich für seinen potenziellen Kunden hätte erwärmen können, aber immerhin ein Anfang.
Max betrachtete das Portraitfoto. Charlie sah seinem Vater nicht im Geringsten ähnlich. Seine Augen und sein Haar waren sehr dunkel, und er hatte einen großen Mund mit vollen Lippen. Er lächelte nicht. Er sah genervt aus, wie ein bedeutender Mann, der bei einer hochwichtigen Arbeit gestört worden war. Ein intensiver, erwachsener Blick, ernst und direkt. Auf dem zweiten Foto stand Charlie mit dem gleichen Gesichtsausdruck vor einer Bougainvillea. Sein langes Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, die ihm über die Schultern hingen. Er trug ein Kleid mit Blümchenmuster und Rüschenkragen.
Max wurde schlecht.
»Es geht mich ja nichts an, und ich bin auch kein Psychologe, aber das hier scheint mir eine todsichere Methode, einem Jungen das Leben echt schwer zu machen, Carver«, sagte Max mit unverhohlener Feindseligkeit.
»Das hat meine Frau so entschieden.«
»Sie sehen nicht aus wie einer, der unter dem Pantoffel steht.«
Carver lachte kurz. Es klang, als müsste er sich räuspern.
»Die Menschen in Haiti sind ziemlich rückständig. Selbst gebildete, intelligente Menschen glauben an allen möglichen Unsinn und Aberglauben …«
»Voodoo?«
»Bei uns heißt es Vodou . Haitianer sind zu neunzig Prozent katholisch und zu hundert Prozent Vodouisten , Mr. Mingus. Da ist gar nichts Schauriges dran – es ist auch nicht schlimmer, als beispielsweise einen halb nackten Mann an einem Kreuz anzubeten, sein Blut zu trinken und sein Fleisch zu essen.«
Er suchte in Max’ Gesicht nach einer Reaktion. Max erwiderte seinen Blick mit ausdrucksloser Miene. Seinetwegen durfte Carver auch gern den Einkaufswagen vom Supermarkt anbeten. Er betrachtete noch einmal das Foto von Charlie im Kleid. Armer Junge, dachte er.
»Wir haben überall nach ihm gesucht«, sagte Carver. »Anfang 1995 haben wir eine Kampagne gestartet, Fernsehspots und Zeitungsanzeigen, Reklametafeln mit seinem Foto, Aufrufe im Radio – alles. Wir haben eine namhafte Belohnung für Hinweise oder im besten Fall für Charlie selbst ausgesetzt. Mit den vorhersehbaren Folgen. Sämtliches Gesindel kam aus seinen Löchern gekrochen und hat behauptet zu wissen, wo ›sie‹ ist. Manche haben sich sogar als ›ihre‹ Entführer ausgegeben und Lösegeldforderungen gestellt, aber das war völlig … die Summen, die da gefordert wurden, waren lächerlich, viel zu niedrig . Natürlich war mir gleich klar, dass da nichts dran war. Das Bauernvolk in Haiti sieht nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze. Und die haben sehr platte Nasen.«
»Ist man allen Hinweisen nachgegangen?«
»Nur, wo es sich lohnte.«
»Erster Fehler. Man muss alles überprüfen. Allen Hinweisen nachgehen.«
»Das haben Ihre Vorgänger auch schon gesagt.«
Billiger Köder, dachte Max. Geh nicht drauf ein. Der will dich bei deinem Ehrgeiz packen. Trotzdem, er war neugierig. Wie viele hatten schon an dem Fall gearbeitet? Woran waren sie gescheitert? Und wie viele waren zurzeit drauf angesetzt?
Dennoch tat er desinteressiert.
»Nur nichts überstürzen. Bis jetzt führen wir nur ein Gespräch«, sagte Max. Auf dem Weg hierher war er zu dreißig Prozent entschlossen gewesen, den Job nicht anzunehmen. Jetzt war er trotz seines geweckten Interesses fast bei fünfzig Prozent.
Carver spürte das und wechselte das Thema, erzählte von Charlie – wann er angefangen hatte zu laufen, von seinem musikalischen Gehör –, danach von Haiti.
Max hörte zu und versuchte interessiert auszusehen, während seine Gedanken abschweiften. Er suchte nach einer Antwort auf die Frage, ob er dem Job überhaupt noch gewachsen war. Er war noch immer unentschlossen. Auf Anhieb sah er
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