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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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verschiedenen Fälle nicht einzeln bearbeitet wurden, sondern in Gegenwart aller anderen Angeklagten und zahlloser Unbeteiligter. Es schien dem Gericht vor allem darum zu gehen, Zeit zu sparen und sich nicht von Details aufhalten zu lassen. Ein Anwalt verlas die Anklage, Zeugenaussagen wurden aufs Nötigste reduziert, der vorsitzende Alderman stellte einige Fragen, die Angeklagten durften eine kurze Stellungnahme abgeben, dann erging nach wenigen Minuten das Urteil: Freilassung, Kaution oder Untersuchungshaft. Alles Weitere würde dann in der Hauptverhandlung zur Sprache kommen.
    Den Vorsitz hatte an diesem Tag ein Mr. Alderman Renals, wie auf dem Schild am Richtertisch zu lesen war. Er war ein glatzköpfiger Mann, der mit seinem pelzbesetzten Kragen, der breiten Krawatte und dem Zwicker auf der Nase sehr streng und ehrfurchtgebietend aussah. Über seinem Kopf prangten das Wappen der Stadt London und ein Porträt der Königin an einer mit rotem Stoff bezogenen Wand.
    Ich schaute mich in dem ringsum holzvertäfelten Saal um und suchte nach bekannten Gesichtern unter den Anwesenden. Auf den Zuschauerbänken, die durch ein Holzgeländer vom vorderen Teil des Raumes abgetrennt waren, entdeckte ich schließlich meinen Bruder William. Er schaute finster drein und erwiderte meinen flehentlichen Blick mit einem verständnislosen und vorwurfsvollen Kopfschütteln. Von Eva Booth war weit und breit nichts zu sehen, auch Gray suchte ich vergeblich. Ich hoffte, dass die Zeugen womöglich in einem angrenzenden Raum oder vor der Tür darauf warteten, ihre Aussage zu machen. Allerdings hatte ich beim Hineingehen keine Wartebänke gesehen.
    Die vier Angeklagten in der ersten Reihe waren inzwischen nacheinander und im Eiltempo abgehandelt worden, sie erhoben sich und wurden aus dem Saal geführt. Einer von ihnen in die Freiheit, die anderen drei ins Gefängnis. Wir vier Snow-Hill-Gefangenen wurden nun angewiesen, in die erste Reihe vorzurücken. Kaum waren wir aufgestanden, nahmen die nächsten Angeklagten unsere hinteren Plätze ein.
    Als Erster wurde Benjamin Graham aufgefordert, sich zu erheben, was dieser mit einem breiten Grinsen tat. Nach den Angaben zur Person, die von Graham sehr würdevoll vorgetragen wurden, trat der diensthabende Constable der Snow-Hill-Polizeiwache in den Zeugenstand und sagte aus, der Beschuldigte sei am Donnerstag zur Wache gebracht worden, weil er in einem Gasthaus in der Newgate Street behauptet habe, für die abscheulichen Morde im East End verantwortlich zu sein. Der Beschuldigte sei offenbar betrunken gewesen und deshalb einem Arzt vorgestellt worden. Doch auch in nüchternem Zustand habe Mr. Graham die Selbstbezichtigung aufrechterhalten.
    Alderman Renals bat den Angeklagten um eine Stellungnahme, und Benjamin Graham verkündete mit hoher Stimme und stolzgeschwellter Brust: »Ja, ich bin Jack the Ripper. Ich habe die Frauen in Whitechapel getötet.« Er wandte sich kurz zu mir um und setzte feierlich hinzu: »Auch die Frau in der Berner Street, die ich nicht nach ihrem Namen gefragt habe.« Dann verkündete er in Richtung Zuschauerraum: »Und darum werde ich am Strick dafür zu büßen haben.«
    Im Saal machte sich ungläubiges Murmeln und vereinzeltes Gelächter breit, das aber sofort von den uniformierten Gerichtsdienern unterbunden wurde. Der Sergeant, der uns von der Wache zur Guildhall begleitet hatte, war inzwischen vor den Richterstuhl getreten und beantragte, den Beschuldigten in Anbetracht dieser Aussage in Untersuchungshaft zu nehmen, um die vorangegangenen Ereignisse und die Lebensumstände des Mr. Graham genauer zu ermitteln. Dem stimmte der Alderman nach kurzem Zögern und mit sichtlichem Unbehagen zu. Er verkündete das Urteil: weitere Untersuchungshaft und Verbringung ins Gefängnis von Holloway. Damit landete der Holzhammer auf dem Tisch.
    Benjamin Grahams Gesicht leuchtete vor Stolz, er hatte es geschafft. Als er sich setzte, raunte er mir zu: »Kannst du deinen Kindern von erzählen.«
    Nun wurde mein Fall aufgerufen. Ich erhob mich, sagte meinen Namen und meine Adresse und nannte meinen Bruder William als Bürgen.
    Der Alderman schaute in seine Unterlagen, fand den entsprechenden Eintrag und las: »William Ingram, 43 Dover Street, Mayfair. Ist Mr. Ingram anwesend?«
    William stand auf und rief: »Anwesend.«
    »Bestätigen Sie, dass es sich bei dem Angeklagten um ihren Bruder Rupert handelt und er unter der angegebenen Adresse wohnhaft ist?«
    »Jawohl«, antwortete William

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