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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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von der Familie zum Gericht kommen?«
    »Der Boss, also Master William«, antwortete er wie beiläufig. »Irgendeiner muss ja für Sie bürgen. Mein Wort zählt da wahrscheinlich nicht viel. Und Ihr Vater«, er wedelte mit der rechten Hand und pfiff leise, »mit dem ist nicht gut Kirschen essen, Boss. Der würde sie am liebsten noch länger hier schmoren lassen.«
    »Das sagtest du bereits«, unterbrach ich ihn und war zugleich froh über seine Worte. Die Auseinandersetzung mit meinem Vater hätte ich vermutlich nicht überstanden. Williams zu erwartender Spott und seine Häme waren allemal besser zu ertragen. Auch wenn ich der wütenden Tirade meines Vaters auf Dauer nicht aus dem Weg würde gehen können.
    »Sonst noch was, Sir?«, fragte Gray und wollte sich die Mütze aufsetzen. »Brauchen Sie vielleicht was zu essen?«
    »Nein, ich bin nicht hungrig«, antwortete ich, winkte ihn aber trotzdem zu mir heran. »Du kannst mir einen Gefallen tun. Geh bitte zum Hauptquartier der Heilsarmee in der Queen Victoria Street und frag nach Captain Eva Booth.«
    »Kann die Spinner nicht leiden«, antwortete er und kratzte sich die Nase.
    »Du sollst sie nicht leiden können, sondern nach Miss Eva Booth fragen.«
    Der Junge runzelte die Stirn und fragte: »Ist das die Frau, die Sie in der City angegriffen haben?«
    »Ich habe niemanden angegriffen!«
    »Verstehe«, antwortete er und nickte, als hätte er nie etwas anderes behauptet. »Und dann? Was mach ich mit dem Captain?«
    »Bitte sie höflich, am Nachmittag zur Guildhall zu kommen.«
    »Wenn sie am Samstag dabei war, als Sie die Frau nicht angegriffen haben, wird sie doch sowieso als Zeugin vorgeladen, oder?«
    Ich überhörte die Ironie oder den Unglauben in seinen Worten und sagte: »Ich möchte nur sichergehen, dass sie eine Aussage vor Gericht macht.«
    »Warum?«, staunte er. »Wär das klug?«
    »Was meinst du damit?«
    »Na ja«, sagte er und rückte sich die Wollmütze zurecht. »Vielleicht hat sie ja längst ihre Aussage gemacht. Und vielleicht ist das ja der Grund, warum Sie überhaupt hier drinsitzen. Wär doch denkbar, oder?«
    »Tu, was ich dir sage!«, knurrte ich ihn an und verdrängte den Gedanken, dass Gray womöglich recht hatte.
    »Ay, Boss!«, antwortete er und salutierte. »Werd’s dem Captain ausrichten.«

2
    Das Polizeigericht befand sich in einem unscheinbaren Nebengebäude auf der Westseite des winzigen, ringsum bebauten Guildhall Yard. Gerade im Vergleich zum verschnörkelten gotischen Portal des alten Rathauses, das den nördlichen Abschluss des düsteren Hofes bildete, wirkte das Gerichtsgebäude streng und abweisend. Was natürlich seinem vornehmlichen Zweck entsprach.
    Wir waren, abgesehen von den Polizisten, zu viert im Polizeiwagen. Am Sonntagabend waren zwei Taschendiebe in der Polizeiwache am Snow Hill abgeliefert worden, nachdem sie am Bahnhof Ludgate Hill auf frischer Tat beim Diebstahl eines Koffers ertappt worden waren. Auch sie sollten heute dem zuständigen Alderman vorgeführt werden. Wie Sträflinge an den Händen gefesselt, wurden wir von einem uniformierten Constable und einem in Zivil gekleideten Sergeant ins Gebäude und durch dunkle Gänge zu einem ebenerdigen Raum im rückwärtigen Teil des Gerichts geführt. Durch die beiden Fenster auf der Südseite konnte man den spitzen Kirchturm von St. Lawrence Jewry sehen, und weil die Sonne direkt über dem First des Kirchendachs stand, fiel gleißendes Licht in den Saal.
    Ich kniff die Augen zusammen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Als ich mich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, war ich überrascht, ein derartiges Gewimmel und Gedränge zu erblicken. Überall saßen und standen Menschen an Pulten und Tischen, auf Stühlen und Bänken, gegen die Wände gelehnt oder in kleinen Gruppen mitten im Raum. Manche bekritzelten eifrig irgendwelche Papiere, andere meldeten sich stehend zu Wort, wieder andere plauderten mit ihren Nachbarn oder starrten unbeteiligt auf ihre Hände oder Füße.
    Der Sergeant befreite uns von den Handschellen und wies uns mit einer Kopfbewegung an, auf der hinteren von zwei Bänken unter den Fenstern Platz zu nehmen. Zwei uniformierte Gerichtsdiener an beiden Enden der Bankreihen sorgten dafür, dass wir den uns zugewiesenen Platz nicht verließen und uns anständig benahmen. Dies waren die Anklagebänke, und direkt vor uns in der ersten Reihe saßen die armen Teufel, deren Schicksal gerade verhandelt wurde. Es wunderte mich, dass die

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