Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
trug.
Der Blick des Aldermans ging zum Constable, und als dieser bestätigend nickte, fragte der Vorsitzende: »Sie wollen zu dem Fall aussagen, Miss Booth?«
»Das will ich.«
Der Alderman schaute kurz auf seine Taschenuhr, machte eine verdrießliche Miene, wies dann aber mit der Hand zum Zeugenstand und sagte: »Nun gut.«
Constable Rackley machte pflichtschuldig, aber mit sichtlichem Widerwillen Platz. Mein Blick ging zum Zuschauerraum, wo Gray mit einem breiten Grinsen an der Pendeltür stand und wie vorhin auf der Polizeiwache in meine Richtung salutierte. Etwas zu theatralisch, wie ich fand, dennoch nickte ich ihm dankbar zu.
»Bitte schildern Sie uns, was am Samstag vorgefallen ist«, sagte der Alderman und fuhr sich über die Glatze. »Aber fassen Sie sich bitte kurz.«
»›Deine Rede sei: Ja! Ja! Nein! Nein! Was darüber ist, das ist vom Übel‹, spricht der Herr«, sagte Eva Booth mit ihrer hellen und klaren Glockenstimme. »Daher in aller gebotenen Kürze: Der Mann ist unschuldig.«
»Er hat sie nicht bedroht?«, wunderte sich der Vorsitzende.
»Nein, das hat er nicht.«
»Er hat die Faust nicht gegen Sie oder den Constable erhoben?«
»Nein, er hat die Faust gegen Gott im Himmel erhoben«, antwortete Eva Booth und schüttelte missbilligend ihren Kopf. »Was ungleich schwerer wiegt, aber nicht vor einem weltlichen Gericht verhandelt werden sollte.«
»Aber Police Constable Rackley hat ausgesagt, dass er von dem Angeklagten tätlich angegangen und körperlich bedroht worden sei.«
»Es mag sein, dass der Officer sich bedroht fühlte und deshalb nicht ohne Grund handelte«, sagte Eva Booth und bedachte den Constable mit einem ebenso verbindlichen wie freundlichen Lächeln. »Ich danke ihm herzlich, dass er die vermeintliche Gefahr abwenden wollte, aber aus meiner Sicht hat eine solche Gefahr nicht bestanden. Es handelte sich um ein bedauerliches Missverständnis. Für das Mr. Ingram ganz gewiss nicht unverantwortlich war.«
»Ich hatte ihn gewarnt«, sagte Constable Rackley kleinlaut und zugleich ein wenig erleichtert. »Ich habe nur meine Pflicht getan.«
»Das haben Sie«, bestätigte Eva und legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Das haben Sie ganz gewiss, Officer.«
Ich hätte sie vor Freude und Dankbarkeit küssen mögen. Während meine Unbeherrschtheit lediglich Widerwillen und Missstimmung erzeugt hatte, glättete sie mit wenigen Worten die Wogen und gab allen das beruhigende und erbauliche Gefühl, sich richtig oder zumindest nicht falsch verhalten zu haben. Alle wahrten ihre Gesichter, niemand wurde verletzt, und allen war gedient.
»Eine Heilige und eine Hexe«, so hatte Simeon sie am Freitag genannt, und das Seltsame war, dass darin gar kein Widerspruch zu liegen schien.
»Sie wissen, dass Sie vor diesem Gericht die Wahrheit sagen müssen«, sagte Alderman Renals und fuhr sich nachdenklich über den Backenbart.
»Ich bin eine treue Dienerin Gottes, Sir, und das achte Gebot ist mir heilig«, antwortete Eva Booth nickend und setzte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich lüge niemals.« Der feierliche Tonfall und der strenge Blick, mit denen sie diese drei Worte vortrug, ließen keinen Widerspruch und keine weiteren Fragen zu.
Der Alderman nickte und lächelte ebenfalls. Er gab sich geschlagen, ohne das Gefühl zu vermitteln, geschlagen worden zu sein. Er richtete sich auf, rückte seinen Zwicker zurecht, klopfte mit dem Hammer auf den Tisch und sagte: »Bitte erheben Sie sich zur Urteilsverkündung.«
Und dann wurde ich freigesprochen.
3
Es dauerte fast eine geschlagene Stunde, bis ich endlich als freier Mann das Gerichtsgebäude verlassen konnte. Zunächst musste ich geduldig auf der Anklagebank verharren, während den beiden Taschendieben der Prozess gemacht wurde. Das geschah allerdings in einem solchen Tempo und ohne Anhören der auf frischer Tat ertappten Angeklagten, dass der Alderman die Zeit, die er mit mir verplempert hatte, mehr als wettmachte. Anschließend wurde ich von einem knurrigen Gerichtsdiener in einen Raum im ersten Stock geführt, wo ich allerlei Unterlagen und Papiere zu unterzeichnen hatte, deren Sinn mir weitestgehend verborgen blieb. Die Schriftstücke waren in einem derartigen Kauderwelsch verfasst, dass ich sie vermutlich nicht verstanden hätte, auch wenn ich sie gründlich gelesen hätte. Ich wollte nur raus und unterschrieb alles, was der Büttel mir hinhielt. Anschließend mussten die Papiere von einem weiteren Beamten gegengezeichnet und mit
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