Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
einem Stempel der Stadt London amtlich gemacht werden. Erst dann wurde mir feierlich eine Kopie der Urkunde überreicht. Der Gerichtsdiener wünschte mir einen guten Tag.
»Kann ich gehen?«, fragte ich ihn.
»Sie sind ein freier Mann«, gab er gleichgültig zurück.
Als ich kurz darauf in den düsteren Guildhall Yard hinaustrat, schlug die Turmuhr der benachbarten Kirche dreimal. Ich sah gerade noch, wie Benjamin Graham in Begleitung zweier Uniformierter und umringt von einer Menschentraube einen vergitterten Polizeiwagen bestieg. Er war inzwischen an Händen und Füßen gefesselt und genoss sichtlich die allgemeine Beachtung. Bevor er in der vergitterten »Black Maria« verschwand, drehte er sich noch einmal um und winkte der johlenden und feixenden Menge zu, als hätte er gerade eine Heldentat begangen. Er sah mich vor dem Eingang des Gerichts stehen und rief lachend: »Ich werde hängen, Ingram!«
»Das freut mich für dich!«, hätte ich beinahe geantwortet, beließ es aber bei einem aufmunternden Kopfnicken. Die Tür des Wagens fiel ins Schloss, eine Peitsche knallte, und die Pferde setzten sich in Bewegung. In Richtung Holloway. Beim nächsten Gerichtstermin vor einem weniger desinteressierten Richter würde der arme Graham vermutlich freigesprochen oder in eine Irrenanstalt überwiesen werden.
Eva Booth hatte den Gerichtssaal kurz nach meinem Freispruch verlassen. Ich erwartete nicht, ihr am heutigen Tag noch einmal zu begegnen. Umso überraschter und erfreuter war ich, als ich sie nun neben William und Gray vor dem Portal der Guildhall stehen sah. Sie war in ein Gespräch mit meinem Bruder vertieft und merkte zunächst gar nicht, dass ich mich ihr von der Seite näherte.
»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Miss Booth«, sagte ich, als sie mich bemerkte und mit einem offenen Lächeln begrüßte.
»Nicht mir, sondern Ihrem jungen Freund«, antwortete sie und deutete auf Gray, der verlegen zu Boden starrte. »Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Und hätte man mich früher über den heutigen Prozess in Kenntnis gesetzt, wäre ich auch ohne persönliche Einladung erschienen.«
»Ich hatte befürchtet, Sie wären immer noch erzürnt und würden es daher nicht ungern sehen, wenn ich bestraft würde.« Ich räusperte mich und setzte leise hinzu: »Grund genug hätten sie gehabt.«
»Was ich Ihnen am Samstag in aller Deutlichkeit gesagt habe, das habe ich auch so gemeint. Doch wer bin ich, jemanden auf ewig für eine Sünde zu verdammen. Jeder Sünder kann auf den rechten Weg zurückfinden. ›Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet‹, spricht der Herr.« Eva Booth deutete erneut auf Gray und wiederholte: »Danken Sie Ihrem jungen Freund, Mr. Ingram. Er hat mich daran erinnert, dass jedes Urteil ein Vorurteil sein kann. Und dass Schatten immer durch Licht entsteht. Genau wie in Ihrem Fall.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, und sah Gray verwirrt an.
»Hab bloß die Wahrheit gesagt, Boss … äh, Sir«, sagte Gray, blickte ängstlich zu William und grinste dann verschmitzt. »Nichts als wie die Wahrheit. Wie’s der Captain vor Gericht gesagt hat.«
»Es freut mich, dass ich helfen und ein Missverständnis aus der Welt schaffen konnte«, sagte Eva Booth, nickte uns dreien zu und wollte sich verabschieden. »Leben Sie wohl, Mr. Ingram. Gott sei mit Ihnen und stehe Ihnen auf dem künftigen Pfad der Tugend bei.«
»Wann kann ich Sie wiedersehen?«, entfuhr es mir, und ich griff nach ihrer Hand. Wie gebannt starrte ich auf die rote Ringellocke, die immer noch unter ihrer schwarzen Haube hervorlugte.
Diesmal entzog sie mir ihre Hand nicht, doch ihre kalten und distanzierten Worte stießen mir wie ein Messer ins Herz. »Sie können mich sehen, wann immer es Ihnen beliebt, Sir. Ich predige häufig und an vielen Orten«, sagte sie und lächelte betont kühl und unverbindlich. »Sie können unseren Zusammenkünften und Gottesdiensten jederzeit beiwohnen, wenn Sie möchten. Die Termine sind in unserer Armeezeitung vermerkt. Und vielleicht bringen Sie Ihre Verlobte mit. Ich würde mich sehr freuen, die Bekanntschaft der jungen Dame zu machen und auch ihr die Frohe Botschaft Christi zu verkünden. Auf Wiedersehen, Sir!« Damit wandte sie sich um und ging davon.
Ich fuhr zu William herum, der mich mit einem triumphalen Grinsen im Gesicht anschaute und schließlich, als Eva Booth außer Hörweite war, spöttisch hervorstieß: » Das ist der Grund für den ganzen Unfug? Für deine
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