Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
hinteren Teil des schmalen Hofes, von dem links und rechts kleinere Passagen abzweigten. »Also nicht krank? Oder alt und gebrechlich?«
»Nicht wirklich«, antwortete ich ausweichend. »Wie viele Stationen gibt es denn im Arbeitshaus?«
»Vier für die Männer und drei für die Frauen«, sagte er und deutete auf einen Eingang, über dem die römischen Ziffern III und IV angemalt waren. »Unterteilt in Kinder, Arbeitstaugliche und Gebrechliche. Die Vorübergehenden noch gar nicht mitgerechnet. Wie heißt der Mann?«
»Simeon Solomon.«
Der Pförtner lachte ungläubig, blieb plötzlich stehen und schüttelte den Kopf. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«, rief er, wandte sich um und ging wieder in Richtung Ausgang. »Die zwei Shilling hätten Sie sich sparen können, Sir. Der alte Kauz ist nicht da.«
»Sind Sie sicher?«, fragte ich. »Wollen Sie nicht vielleicht nachschauen?«
»Nicht nötig«, antwortete er, zog mich am Ärmel hinter sich her und kicherte belustigt. »Den verrückten Simeon kenn ich. Den kennt jeder hier. Ein bunter Hund sozusagen. Und darum weiß ich auch, dass er seit zwei Nächten nicht erschienen ist. Sein Bett wurde längst weitergegeben. Da schläft jetzt ein anderer drin.«
»Warum?«
»Warum?«, schnaubte er und schaute mich empört an. »Ist doch kein Hotel hier, wo man kommen und gehen kann, wie’s einem passt.«
»Nein, ich meine, warum ist er nicht mehr erschienen?«
»Woher soll ich das wissen?« Der Pförtner zuckte mit den Schultern und schob den Riegel an der Pforte zur Seite. »Er hat sich nicht bei mir abgemldet. Ist ’n komischer Vogel, Ihr Freund. Irgendwie nicht normal. Aber seine Bilder waren, nun ja, Sie wissen schon, nicht von schlechten Eltern.« Er zwinkerte mir zu und schnalzte mit der Zunge.
Ich erinnerte mich an Simeons Bemerkung über den Pförtner und dessen erotische Vorlieben, die lieber geheim bleiben sollten.
»Aber irgendwann ist Schluss mit den Extrawürstchen«, setzte der Pförtner hinzu. »Ist schließlich ein Arbeitshaus.« Er öffnete die kleine Pforte und schob mich hindurch. »Wenn Sie ihn finden, dann sagen Sie ihm, dass seine Sachen noch hier sind. Er soll sie abholen und die Anstaltskleidung zurückbringen. Die gehört der Gemeinde.«
»Und wenn er ins Arbeitshaus zurückmöchte?«, fragte ich.
»Muss er das neu beim Komitee beantragen«, antwortete der Pförtner achselzuckend. »Sein Bett ist erst mal futsch. Ist ja kein …«
»… Hotel?«
»Genau«, sagte er und schloss die Tür.
Vom Arbeitshaus in der Endell Street führte mein Weg direkt in die nahe gelegene Drury Lane. Zunächst wollte ich im Rookery Inn nachschauen und den Wirt fragen, ob er Simeon in den letzten Tagen gesehen hatte. »Zwei Nächte«, hatte der Pförtner gesagt. Seit Samstag war er also nicht mehr im Arbeitshaus gewesen. Und am Sonntagmorgen hatte Simeon im Crown Hotel ans Fenster des Dienstbotenzimmers geklopft. Voll wie eine Haubitze!
Als ich den Wirt des Rookery Inn nach Simeon Solomon fragte, und dabei auf Simeons Zeichnung der Kneipe deutete, die hinter ihm über dem Tresen hing, meinte er: »Der war erst vor ’n paar Tagen hier. Zusammen mit ’nem jungen Kerl. Sah aus wie ’n Handwerksbursche. Da drüben haben sie gehockt.« Er deutete in die Ecke, in der ich am Donnerstag mit Simeon gesessen hatte, und da erst begriff ich, dass der Wirt mich in meiner jetzigen vornehmen Kleidung, mit Zylinder, Gehstock und pelzbesetztem Mantel, nicht wiedererkannte. Da mein auffälliges Muttermal unter dem Wundpflaster verborgen war, diente auch das nicht als Erkennungsmerkmal.
»Danach nicht mehr?«, fragte ich. »In den letzten beiden Tagen?«
»Nay, Sir!«
Ich verließ die Kneipe und trat hinaus in den Regen, der inzwischen in Strömen vom Himmel prasselte. Wind war aufgekommen und fegte durch die dunklen Gassen. Ich überlegte, ob ich die Pubs und Inns der Umgegend absuchen oder lieber nach Hause fahren sollte. Der Gedanke an mein neues »Zuhause« im Hatchett’s behagte mir wenig, so beschloss ich, weder das eine noch das andere zu tun, sondern ins East End zu fahren. Diesmal jedoch – zum ersten Mal in meinem Leben – ohne Maskerade.
Mit einem der grünen Omnibusse der Bayswater-Linie, die glücklicherweise noch bis Mitternacht in Betrieb waren, fuhr ich von der Oxford Street direkt bis nach Whitechapel. Die mehr als halbstündige Fahrt führte mich mitten durch die City, vorbei an der Polizeiwache am Snow Hill, dem festungsähnlichen
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