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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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du mir glauben.« Anders als in seinem Büro klangen seine Worte diesmal ehrlich.
    »Ich glaube dir«, antwortete ich. »Aber ich weiß bereits, wer der Maler ist.«
    »Du weißt?« Da waren sie wieder, die Überraschung und die Furcht in seinem Gesicht. »Woher? Wieso?«
    »Ich nehme an, Sie übernachten im Hatchett’s, Sir?«, wandte ich mich an Mr. Barclay. Da er nickte, setzte ich hinzu: »Dann sehen wir uns morgen zum Frühstück. Auf Wiedersehen, die Herren!«
    »Die Jugend«, hörte ich Mr. Barclay lachen, als ich den Raum verließ.

6
    Das Arbeitshaus von St. Giles wirkte mit seiner zehn Fuß hohen Mauer, die das gesamte Gelände umgab, und den barackenartigen, vierstöckigen Gebäuden nicht gerade einladend. Der Komplex erinnerte eher an ein Gefängnis als an eine wohltätige Einrichtung, auch wenn die Mauerkrone nicht bewehrt und die Fenster in den schmucklosen Backsteinhäusern lediglich im Erdgeschoss vergittert waren. Sogar eine kleine Kapelle, eine Badeanstalt und ein Krankenhaus gab es auf dem weitläufigen Gelände, wie ich von Simeon wusste. Im Gegensatz zu einer Haftanstalt standen die Leute an diesem unwirtlichen Ort Schlange, um hineingelassen zu werden. Natürlich nicht ganz freiwillig, sondern aus Not und Armut. Dennoch galt der Aufenthalt hier nicht als Strafe oder Zwangsmaßnahme, jedenfalls nicht auf dem Papier.
    Als ich mich dem zentralen Zugang näherte und an die kleine Pforte klopfte, passierte lange Zeit gar nichts. Ich schaute mich um und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite, direkt neben einer Gaslaterne, eine Art provisorisches Zelt aus Stoffbahnen, in dem mehrere Menschen unter Lumpen und Decken auf dem nackten Steinboden kauerten. Auch neben dem Zelt lagen Menschen auf der Erde, dicht aneinandergedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen. Unter der Laterne stand ein verlottert aussehender Junge mit bleichem Gesicht und in die Seiten gestemmten Armen, der mich belauerte, als könnte von mir irgendeine Gefahr ausgehen. Unweit des Zeltes befanden sich ein öffentliches Urinal und ein vergitterter Brunnen für Trinkwasser. Das mit einem Schloss versehene Gitter diente, wie ich vermutete, der Rationierung des Wassers.
    Erneut klopfte ich ans Holz, diesmal mit dem Knauf meines Gehstocks. Nur einen Augenblick später öffnete sich ein kleines Sichtfenster in der Pforte, in dem ein mürrisch dreinblickendes Männergesicht zum Vorschein kam.
    »Ich möchte …«, begann ich.
    »Heute nicht mehr!«, unterbrach mich der Pförtner kläffend. »Versuchen Sie es morgen wieder, junger Mann. Vielleicht gibt’s dann Platz.«
    »Aber ich …«
    »Gehen Sie rüber zu den anderen, und schlafen Sie dort!«, sagte der Mann und deutete mit dem Zeigefinger auf die andere Straßenseite. »Dann sind Sie morgen einer der Ersten. Einlass ist ab acht. Natürlich nur, wenn was frei wird.«
    Mein Blick folgte seinem Finger, und ich sah, wie der Junge von eben zu einer anderen Gestalt neben dem Zelt unter die Decke kroch.
    »Ich suche kein Obdach«, erwiderte ich und schlug den Kragen meines Mantels hoch, weil es gerade zu nieseln begonnen hatte. Es würde eine feuchte und kalte Nacht werden. »Ich möchte hier nicht übernachten, Sir, sondern jemanden besuchen.«
    »Um diese Uhrzeit?«, lachte der Pförtner. »Kommen Sie morgen früh wieder, Sir. Es ist längst Nachtruhe.«
    »Es ist ungemein wichtig.«
    »Das sagen sie alle«, murrte der Mann und wollte die Klappe schließen.
    Wie durch ein Wunder lag plötzlich ein Shilling vor ihm auf dem Sims. Der Pförtner hielt in seiner Bewegung inne. Allerdings machte er noch keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Ein zweiter Shilling gesellte sich zu dem ersten und verschwand im nächsten Augenblick in der Hand des Pförtners. Dann wurde die Klappe geschlossen, ein Riegel zur Seite geschoben und die Pforte geöffnet.
    Unwilliges Murren wurde von der anderen Straßenseite laut.
    »Schnauze, da drüben!«, keifte der Pförtner, zog mich hinein, knallte die Tür hinter mir zu und schob den Riegel vor. Dann hielt er mir ein Windlicht unter die Nase und fragte: »Mann oder Frau?«
    Ich stutzte kurz und sagte: »Mann.«
    Er wandte sich nach rechts und fragte: »Dauerhaft oder vorübergehend?«
    »Wie bitte?«
    »Der Mann, den Sie besuchen wollen«, erklärte der Pförtner und wischte sich über die bucklige Nase. »Dauerhaft oder vorübergehend?«
    »Dauerhaft. Jedenfalls wohnt er hier schon seit vier Jahren.«
    »Hm«, machte der Pförtner und führte mich in den

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