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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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trat vor meinem geistigen Auge ein abgehetztes Wesen in schmutzigen Kleidern am Bahnhof Waterloo, dem ich achtlos meinen Koffer in die Seite gerammt hatte.
    »Ich warte, Rupert«, sagte mein Vater.
    »Wer ist diese Frau?«, rief ich so abrupt, dass ihm beinahe die Zigarrenschachtel aus der Hand gefallen wäre.
    »Wie bitte?« Seine Augen folgten meinem Blick. »Was meinst du?«
    »Wer ist diese Frau?«, wiederholte ich meine Frage. »Wer ist die Frau in Weiß?«
    »Wer soll das schon sein?«, erwiderte er ausweichend und senkte den Blick. »Irgendeine Hirtin.«
    »Ich kenne diese Frau«, sagte ich, schüttelte den Kopf und trat näher an das Gemälde heran. »Das ist nicht irgendeine Hirtin. Ich bin der Frau begegnet. Nein«, verbesserte ich mich sofort, »ich bin ihrer Tochter begegnet.«
    Nun fiel meinem Vater tatsächlich die Zigarrenschachtel aus den Händen, doch er schien es gar nicht zu bemerken, sondern fragte beinahe ängstlich: »Wem bist du begegnet? Von was für einer Tochter sprichst du? Was redest du da?«
    »Woher hast du dieses Gemälde?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
    Er räusperte sich, atmete tief durch und bückte sich unter den Schreibtisch, um die heruntergefallenen Zigarren aufzusammeln. Als er sich wieder erhob, waren die Überraschung und die Verwirrung aus seinem Gesicht verschwunden. Und seine Worte klangen so unbeteiligt und beiläufig wie nur möglich: »Auf einer Auktion gekauft. Mir hat das Bild gefallen, darum habe ich es ersteigert. Die Hirtin hat mich an deine Mutter erinnert. Das weißt du doch.«
    »Sie sieht unserer Mutter überhaupt nicht ähnlich.«
    »Für mich schon«, behauptete mein Vater, und wieder ging sein Blick zu Boden. »Und jetzt lenk nicht vom Thema ab!«, brach es plötzlich aus ihm heraus. »Es geht hier nicht um das Gemälde, sondern um dich. Das geht so nicht weiter.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und rief: »Schluss mit dem Unfug!«
    »Da hast du ausnahmsweise recht, Vater.«
    In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Mortimer steckte seine Nase durch den Spalt und fragte flüsternd: »Wo steckt ihr denn? Mr. Barclay hat die Papiere vorbereitet. Was ist denn hier los?«
    Wie auf Kommando änderte sich Vaters Miene. Er setzte ein unechtes Lächeln auf, klemmte sich die Zigarren unter den Arm und rief über den Flur: »Du hast Glück, Robert. Ich habe noch eine kleine Kiste Partagás gefunden.« Und damit ging er schnurstracks zurück ins Raucherzimmer.
    Mortimer schaute mich fragend an, doch ich zuckte nur mit den Schultern, warf einen letzten Blick auf das Gemälde und folgte ihm über den Flur. Als wir den Rauchsalon betraten, winkte mich Mr. Barclay, die gewünschte Zigarre bereits im Mund, zu sich an den Tisch. Er ließ sich von William Feuer geben, paffte ein paar Mal genüsslich und sagte: »Es ist alles dargelegt. Wie wir es besprochen haben. Du musst nur noch unterschreiben, Rupert.«
    »Warum so eilig?«, unternahm ich einen letzten Versuch, das Unausweichliche hinauszuzögern. »Meredith und ich sind ja noch nicht einmal verheiratet. Hat das nicht Zeit bis nach der Hochzeit?«
    »Hältst du mich etwa für einen solchen Esel?«, lachte Mr. Barclay und puffte mich am Oberarm, als hätte ich einen guten Witz erzählt. »Das steht natürlich alles unter Vorbehalt und wird erst nach eurer Vermählung rechtskräftig und bindend.« Wieder lachte er glucksend, als hätte er bei Tisch zu viel Wein getrunken. »Wenn Meredith es sich anders überlegt oder sich einen anderen Kerl schnappt, dann gehst du natürlich leer aus. Wenn die Ehe nicht zustande kommt, dann ist diese Vereinbarung null und nichtig. Also keine Dummheiten, mein Junge! Und jetzt nimm dir eine Zigarre, und lies erst mal in Ruhe den Vertrag.«
    »Nicht nötig.« Ich schüttelte erleichtert den Kopf, nahm die Feder und unterschrieb. »Das ist alles, was ich wissen wollte.«
    »Bravo!«, rief Mr. Barclay und klatschte in die Hände. »Das nenne ich Entschlusskraft. Willkommen in der Familie Barclay.«
    »Danke, Sir!« Ich gab Vater, der die ganze Zeit lauernd hinter uns gestanden hatte, die Feder und sagte: »Entschuldigt mich bitte bei den Damen, aber ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen.«
    »Wo willst du hin?«, rief mein Vater, und es klang wie eine Drohung.
    »Zu dem Maler des Gemäldes.«
    »Welches Gemälde?«, wunderte sich William.
    »Ich sagte doch, ich habe keine Ahnung, wer das Bild gemalt hat«, sagte mein Vater fast flehentlich. »Das musst

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