Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
heraus, begutachtete sie, schüttelte bedauernd den Kopf und legte sie dann zurück. »Tut mir leid, Robert. Vielleicht sind drüben im Büro noch welche.«
    Mortimer, der bereits in einem Lehnsessel Platz genommen hatte, sprang auf, um über den Flur zu gehen und nachzuschauen, doch Vater hielt ihn mit einer Handbewegung zurück und wandte sich an mich: »Rupert, mein Junge, gehst du bitte hinüber und schaust nach, ob im Reisehumidor neben dem Schreibtisch noch eine Partagás für deinen Schwiegeronkel ist?«
    »Gerne«, antwortete ich und zuckte unmerklich bei der Bezeichnung »Schwiegeronkel« zusammen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass Vater mich nicht nur wegen der kubanischen Zigarren ins Büro geschickt hatte. Und tatsächlich: Kaum hatte ich den Flur betreten und die gegenüberliegende Tür zum Büro geöffnet, schon stand er hinter mir und schubste mich regelrecht in den Raum.
    »Ich möchte von dir eine Entschuldigung hören! Und zwar sofort!«, fauchte er und schloss die Tür hinter sich. Es war nun völlig dunkel im Raum, und nur das gelbliche Licht der Straßenbeleuchtung erhellte das Büro so weit, dass man vage Umrisse und Schemen erkennen konnte.
    »Eine Entschuldigung?«, antwortete ich und ging zum Fenster. »Ich wurde freigesprochen, Vater. Soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich ohne Anlass verhaftet wurde und tagelang in einer Zelle saß?«
    »Ich erwarte eine Entschuldigung dafür, dass du uns in diese missliche Lage gebracht hast«, sagte er und blieb vor der Tür stehen, als befürchtete er, ich könnte sonst Reißaus nehmen. Eine keineswegs unbegründete Furcht.
    »Ihr wart in einer misslichen Lage?«, lachte ich bitter auf und starrte hinaus auf die breite, selbst um diese Uhrzeit noch verstopfte Piccadilly. »Und was war ich? Im Erholungsurlaub? Wenn ihr so unter der Situation gelitten habt, warum habt ihr mich dann nicht aus der Zelle geholt?«
    »Auf der Polizeiwache?«, erwiderte er und schnaufte abfällig. »Mit Waffengewalt? Oder wie stellst du dir das vor? Eine Kaution wird erst vorm Polizeigericht verhandelt, wie du inzwischen eigentlich wissen solltest.«
    »Dir wäre es doch nur recht gewesen, wenn sie mich nach Holloway geschickt hätten!«, rief ich aufgebracht und wandte mich ihm zu. Meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und ich erkannte sein grimmiges, vollbärtiges Gesicht. Ich trat näher an meinen Vater heran und setzte hinzu: »Wenn Miss Booth nicht gewesen wäre und zu meinen Gunsten ausgesagt hätte, hätten sie mich ins Gefängnis gesteckt.«
    »Das hätten sie nicht«, sagte er bestimmt.
    »Ach nein?«
    »Nein«, antwortete er und lachte. »Du wärst auf Kaution freigekommen.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Weil ich es so mit Alderman Renals besprochen hatte.«
    »Du hast … ich meine … du warst …?« Ich war sprachlos.
    »Glaubst du allen Ernstes, dass ich so etwas dem Zufall oder dem Gutdünken eines Aldermans überlasse? Renals ist ein Freund der Familie Wallace, die, wie du weißt, entfernt mit uns verwandt ist. Natürlich habe ich mit Alderman Renals den Ausgang des Verfahrens besprochen. Und es ihm vorab fürstlich vergolten. Alles andere wäre mehr als fahrlässig gewesen.«
    »Aber der Alderman wirkte nicht so, als würde er mich gehen lassen.«
    »Renals ist schließlich kein Dummkopf.« Vater fuhr sich durch den Rauschebart und tippte anschließend mit dem Zeigefinger auf meine Brust. »Und jetzt möchte ich deine Entschuldigung hören, Sohn!«
    »Lass gut sein, Harvey!«, erklang in diesem Augenblick Mr. Barclays dumpfe Stimme über den Flur. »Dann rauche ich eben eine Monterrey.«
    »Nein, nein, Robert! Ich habe noch eine Schachtel hier!«, rief mein Vater und drehte an dem elektrischen Lichtschalter neben der Tür. Die Glühbirnen flammten auf, und für einen Moment war ich wie geblendet, weil ich direkt in eine der Schirmlampen geschaut hatte. Während Vater zum Schreibtisch ging und aus einem etwas kleineren Humidor ein Kistchen der gewünschten Partagás herausholte, wandte ich meinen Blick ab und schaute zum Gemälde der »Frau in Weiß«, das an prominenter Stelle über dem Schreibtisch hing.
    Ihr Anblick versetzte mir einen solchen Stich, dass ich nach Luft schnappen musste. Denn plötzlich erkannte ich in dem niedlichen Hirtenmädchen im weißen Kleid eine verängstigte junge Frau im Fackelzug der Heilsarmee. An die Stelle der verträumt dreinschauenden Landschönheit zwischen Ziegen und Schafen

Weitere Kostenlose Bücher