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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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morgen wieder. Schaffen Sie das?«
    »Selbstverständlich, Sir«, sagte der Lehrling und verbeugte sich. »Es gibt nichts, was die Brüder Taylor nicht für Sie tun könnten. In welchem Format wünschen Sie den Abzug? Visitenkarte oder Kabinett?«
    »So groß wie möglich«, antwortete ich, setzte meinen Zylinder auf und verabschiedete mich. Ich verließ das Fotostudio, rannte durch den immer noch strömenden Regen, winkte einer Droschke, sprang hinein und rief dem Kutscher zu: »Stepney!«

10
    Die Nummer 16 in der White Horse Lane befand sich direkt gegenüber vom Trafalgar Square, einem verwilderten und von schmucklosen, backsteinernen Reihenhäusern umgebenen Garten, der wenig mit dem gleichnamigen Platz in Westminster gemein hatte. Dieser Trafalgar Square hatte weder sprudelnde Brunnen noch riesige Statuen oder Säulen zu bieten, es handelte sich lediglich um eine von Büschen und Dornensträuchern durchsetzte Rasenfläche mit einem dreckigen Tümpel in der Mitte. Einige Holzbänke waren im Nebel zu sehen; an den vom Regen aufgeweichten Zeitungen und dem Müll ringsum konnte man erkennen, dass auch dieser Platz den Obdachlosen als Nachtasyl diente. Das Haus mit der Nummer 16 befand sich auf der Westseite der Straße. Es entpuppte sich als ein dreistöckiger Gewerbekomplex mit mehreren Innenhöfen, die so eng bebaut waren, dass auch bei Sonnenschein kein Licht hineinfiel. Bei Regen und Nebel, wie im Moment, war es in den Höfen nahezu finster, auch weil es keinerlei Beleuchtung gab.
    An der Straße befanden sich ein Pfandleiher und eine Korbmacherei, doch ein Großteil der hinteren Gebäude stand offenbar leer. Lediglich die Werkstätten eines Schuhmachers und eines Tischlers sah ich im ersten Hof, der zweite Hof gehörte zu einem Lumpensammler namens Adams. Direkt über dem ebenerdigen Lager des Lumpenhändlers befand sich eine heruntergekommene Pension, eine Art Sammelunterkunft für Mittellose, deren Eigentümer laut einem Schild an der Fassade ebenfalls Adams hieß. »Gute Betten für Threepence die Nacht«, hieß es auf der Werbetafel. Die Familie Adams schien sich darauf spezialisiert zu haben, den Unrat von den Straßen zu lesen.
    Ein Mann mit Lederschürze und Schiebermütze saß vor dem Lumpenlager und war damit beschäftigt, rostige Nägel mit einer Kneifzange aus alten Holzbrettern zu ziehen. Ich fragte ihn, wo ich Maureen Watson finden könnte, doch er zuckte lediglich mit den Schultern und deutete dann nach oben zur Pension.
    »Versuchen Sie’s im Dosshouse.«
    »Dosshouse?«, wunderte ich mich. »Meinen Sie die Pension?«
    »Sag ich doch«, knurrte er und bog einen herausgezogenen Nagel gerade.
    Ich stieg eine schmale und sehr steile Treppe hinauf in den ersten Stock und landete an einem verwaisten Tresen, über dem ein Schild hing: »Rezeption«. Ich schlug auf die Glocke und öffnete eine Tür, die rechter Hand zu einem düsteren Flur führte und an der ein Schild mit der Aufschrift »Männer« hing. Von dem Flur, der von einem gelblichen Gaslicht beleuchtet wurde, gingen links und rechts weitere Türen ab. Durch eine von ihnen, die offen stand, blickte ich in einen winzigen Raum, in dem vier Doppelstockbetten zusammengepfercht waren, sodass zwischen den Bettgestellen kaum Platz zum Stehen war. An dem Bettzeug und den Kleidern, die auf den Matratzen lagen, erkannte ich, dass sämtliche Betten belegt waren.
    »Ja?«, krächzte eine Frauenstimme hinter mir am Empfang.
    »Wohnen bei Ihnen auch Frauen?«, fragte ich und schaute in das hässliche Gesicht einer dicken Matrone, deren Haut an eine verschrumpelte Orange erinnerte. Wegen der tiefen Runzeln und der gelblichen Farbe.
    »Ein Stockwerk höher«, sagte die Frau und wies mit dem Zeigefinger zur Treppe. »Wen suchen Sie denn?«
    »Maureen Watson und Celia Brooks. Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«
    »Kann ich. In der Künstlermansarde.«
    »Künstlermansarde?«
    »Für die Leute vom Palast«, antwortete sie achselzuckend.
    »Palast?«
    »Red ich undeutlich? Unterm Dach.« Wieder ging ihr Finger in Richtung Treppe, und sie setzte hinzu: »Immer der Nase nach.«
    »Danke«, sagte ich verwirrt und wandte mich ab. Ich war mir nicht sicher, ob sie mit ihrer letzten Bemerkung die Richtung oder den Gestank gemeint hatte.
    »Haben Sie keinen Koffer dabei?«, rief sie mir nach.
    »Einen Koffer?«, wunderte ich mich. »Ich möchte hier nicht wohnen.«
    »Wohnen!«, lachte die Frau und schlug mit der flachen Hand auf den Empfangstisch. »Sehr

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