Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Kopf.
»Natürlich, entschuldigen Sie«, begriff ich, holte meine Brieftasche aus der Jacke und gab ihr eine Pfundnote. »Beeilen Sie sich, Miss Watson!«
»Wird Celia …?«, fragte sie, während sie das Geld einsteckte und einen Mantel anzog.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich und starrte auf den entzündeten rechten Zeigefinger. »Beeilen Sie sich!«
Als hinter mir die Wohnungstür ins Schloss fiel, durchfuhr mich ein Gedanke wie ein Skalpell. Unwillkürlich fasste ich mir an meine bepflasterte Wange und das entzündete Muttermal. Die Ratten!
Am Freitagabend war mir das Mädchen im Fackelzug der Heilsarmee über den Weg gelaufen beziehungsweise vor die Füße gestolpert. Und dann hatte es erschrocken aufgeschrien. Damals hatte ich gedacht, sie hätte geschrien, weil sie mich nach unserer ersten Begegnung am Bahnhof Waterloo wiedererkannt hatte, doch jetzt begriff ich, was tatsächlich geschehen war. Celia Brooks war in den Finger gebissen worden. Wahrscheinlich von der Ratte, die ich in meinem Käfig unter dem Tuch getragen hatte.
»Könnte spaßig werden«, hatte Simeon gesagt.
Alles nur ein dummer Scherz. Eine alberne Laune. Ein harmloser Streich. Wie in der Nacht, in der ich Elizabeth Stride aus dem Frauenasyl gelockt hatte. Weil es mir Spaß bereitet hatte. Weil es mir möglich gewesen war. Weil ich nicht begriffen hatte, dass alles, was ich tat, unmittelbare Folgen hatte und anschließend nicht ungeschehen gemacht werden konnte. Ein entzündeter Rattenbiss, der für mich eher lästig als gefährlich gewesen war, konnte einem armen und ohnehin geschwächten Mädchen das Blut vergiften. »Sie haben sie auf dem Gewissen«, hatte Eva Booth gesagt. Alles wiederholte sich. Alles begann von vorne!
»Nicht, kleine Celia«, sagte ich und streichelte ihr über die heißen Wangen und die schweißnasse Stirn. »Bitte nicht!«
Wieder zuckte sie wie unter Schmerzen zusammen. Plötzlich bäumte sie sich auf und öffnete die Augen. Doch sie starrte durch mich hindurch, schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen und wisperte: »Ein Nachbar. Ein komischer Kauz!« Dann sank sie mit einem lauten Ächzen wieder ins Kissen.
SECHSTER TEIL
CELIA BROOKS
»There, as if it had that moment sprung out of the earth or dropped from the heaven, stood the figure of a solitary Woman, dressed from head to foot in white garments, her face bent in grave inquiry on mine, her hand pointing to the dark cloud over London.«
(»Dort, als wenn sie in diesem Moment aus der Erde entsprungen oder vom Himmel gefallen wäre, stand die Gestalt einer einzelnen Frau, von Kopf bis Fuß in weiße Gewänder gekleidet, ihr Gesicht in ernster Frage mir zugeneigt und mit der Hand auf die dunkle Wolke über London deutend.«)
Wilkie Collins, The Woman in White, 1860
MONTAG, 22. OKTOBER 1888
(AM TAG ZUVOR)
1
Als Celia am frühen Montagmorgen durch Maureens Schnarchen geweckt wurde, empfing sie ein pochender Schmerz in den Schläfen, und ein unangenehmer Schauer fuhr ihr in wiederkehrenden Wellen über die Haut. Bereits am späten Abend, als sie sich auf die durchgelegene Matratze unter der Dachschräge gelegt hatte, hatte sie ein leichtes Brummen im Kopf und ein Frösteln am Körper verspürt, doch das Brummen hatte sie sich mit den Aufregungen des Umzugs und das Frösteln mit der zugigen Dachkammer und der dünnen Bettdecke erklärt. Nun wohnte sie also bei Maureen und würde ihr als Assistentin, Dienstmädchen und Köchin zur Hand gehen. Und sie womöglich bald auch als gute Freundin gewinnen, wie Celia inständig hoffte.
Der erste Eindruck von ihrer neuen Umgebung war allerdings alles andere als einnehmend gewesen. Eher ernüchternd und deprimierend. Ein Nachtasyl! Nicht unähnlich der Unterkunft in der Hanbury Street, nur dass die dicke Mrs. Adams drei Pence pro Matratze und Nacht für die schäbige Schlafgelegenheit berechnete. Als Celia am gestrigen Sonntagmittag an der Rezeption gestanden und die nach ranzigem Fett und gedünsteten Zwiebeln riechende Zimmerwirtin gefragt hatte, wo sie Miss Maureen Watson finden könne, da wäre sie am liebsten auf der Stelle umgekehrt und fortgerannt. Denn während das Heim der Heilsarmee ein zwar ärmlicher, aber sicherer Ort für mittellose und bedürftige Frauen war, handelte es sich bei dem Dosshouse in der White Horse Lane um eine Absteige der übelsten Art. Die Wirtin schien sich weder für die Sauberkeit ihres Hauses noch für den Zustand ihrer Gäste zu interessieren. Aus dem Männertrakt, der
Weitere Kostenlose Bücher