Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
sich ab, räusperte sich und deutete in die Küche. »Ich meine, wegen dem Obst und der Süßigkeiten.« Sie lachte etwas aufgesetzt und setzte hinzu: »Ich hätte es mit meinem Dienstmädchen wahrlich schlechter treffen können.«
Celia hatte den Brei gegessen, die Milch getrunken und sich anschließend, mit Maureens Hilfe, auf dem Nachttopf erleichtert. Als sie sich mit zitternden Beinen vom Nachtgeschirr erhob und dabei von Maureen gestützt werden musste, schoss ihr plötzlich ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf. Hatte sie etwa in den letzten Tagen in Mr. Ingrams Gegenwart ebenfalls auf dem Topf gesessen, hatte er ihr womöglich beim Verrichten ihrer Notdurft geholfen? Oder hatte sie gar während ihrer Ohnmacht ins Bett gemacht? Der Gedanke war so quälend und erniedrigend, dass sie die Augen schloss, sich aufs Bett fallen ließ und sich unter der Decke verkroch.
»Ich bringe den Topf nach unten«, sagte Maureen. »Ich muss ohnehin noch einige Besorgungen machen. Soll ich dir etwas mitbringen?«
Celia schüttelte den Kopf. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, den Nachttopf zu leeren und die Einkäufe zu erledigen. Stattdessen ließ sie sich von Maureen bedienen, als wäre sie die Herrin. Wie peinlich das war! Wie unpassend!
»Brauchst du sonst noch etwas?«, fragte Maureen.
»Meine Bücher«, sagte Celia und deutete auf ihren Koffer.
»Streng dich nicht zu sehr an«, mahnte Maureen und stellte den Lederkoffer auf das Bett. »Du brauchst Ruhe. Lesen schadet nur.«
Ja, dachte Celia, Lesen schadet. Sie hatte in den letzten Tagen viel Schädliches gelesen. Auf Postkarten. In Zeitungen. Auf Fotografien. In Folianten.
»Ich blättere nur ein wenig in Mutters Büchern«, sagte sie und holte eines der Bücher aus dem Koffer, während Maureen mit dem gefüllten Nachttopf in der Hand die Wohnung verließ.
Genau zwei Bücher hatte ihre Mutter besessen – abgesehen von der Bibel und dem Gebetbuch der Kirche von England, die Celia allerdings in Brightlingsea gelassen hatte. Alle anderen Schriften und Romane, die ihre Mutter in großer Zahl verschlungen hatte, hatte sie aus der Pfarrbücherei entliehen oder von Freunden geborgt. Nur diese beiden Bände hatten Mary Brooks tatsächlich gehört: Murrays Handbuch des modernen London von 1860 und außerdem ein kleines, bereits zerfleddertes Büchlein mit Sinnsprüchen und Zitaten.
Celia griff nach dem Zitatebuch, in dessen Einband ihre Mutter ihren Namen geschrieben hatte: Mary Tremain. In einer fast kindlich wirkenden Schrift. Celia blätterte flüchtig durch das Buch, in dem manche Passagen unterstrichen oder am Rand mit Ausrufe- oder Fragezeichen versehen waren. Eine Zeile am Ende des Buches, es handelte sich um einen biblischen Psalm, war doppelt unterstrichen und zudem mit einem Ausrufezeichen versehen. Celia las: »Gedenke nicht der Sünden und Verfehlungen meiner Jugend.«
Celia schluckte und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Schnell legte sie das Buch beiseite und griff sich den alten Reiseführer, dessen Einband fleckig und abgerieben war. Auch das Handbuch von London hatte Mary Tremain mit ihrem Namen versehen, in der gleichen kindlichen Sonntagsschrift. In der Mitte des Buches steckte ein Lesezeichen, das Celia schon oft angesehen hatte, das sie aber seit einigen Tagen mit anderen Augen betrachtete. Es handelte sich um einen Werbezettel des George Inn in Southwark. »Inhaber: Rodney Webster«, wie unten auf dem schmalen Zettel neben der Adresse des Gasthauses vermerkt war. Auf dem Papier wurden das feine Ale und das würzige Porter gelobt, die im George ausgeschenkt wurden. Außerdem wurde auf die hervorragende warme Küche und die freundliche Bedienung hingewiesen. Auf dem Lesezeichen gab es keine handschriftlichen Vermerke oder Unterstreichungen. Nur ein belangloser Werbezettel eben.
Die Seiten, zwischen denen das Lesezeichen eingeklemmt war, hatte Celia ebenfalls schon häufig überflogen, ohne jedoch irgendetwas Interessantes zu entdecken. Auf der linken Hälfte befanden sich zwei Spalten mit Text, auf der rechten Seite war die Abbildung eines sehr vornehmen Hauses zu sehen. Der Text befasste sich mit verschiedenen Unterkünften und Gasthäusern, allerdings nicht in Southwark, sondern im vornehmen West End. Die Illustration zeigte eines der noblen Hotels an der Piccadilly, das Hatchett’s Hotel. Auf dem Bild hatte sich der Besitzer des Hotels mit seiner Frau vor dem Eingang postiert, und unter der Illustration hieß es in Kursivschrift: Eine gute
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