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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Strömung mitgerissen worden und flussabwärts mitten im Colne wieder aufgetaucht. Was auch wegen des dichten Schiffsverkehrs nicht ungefährlich war. Doch wenn man Glück hatte und die Luft und Kraft reichte, schaffte man es hinüber bis ans westliche Ufer. Wenn man dort in den Salzmarschen des Wicks wieder auftauchte und mit pfeifenden Lungen nach Luft schnappte, kam es einem vor, als wäre man wie neugeboren. Der Stolz, es geschafft zu haben, und die Erleichterung, endlich wieder einatmen zu können, verschafften einem ein unglaubliches Hochgefühl. Jedenfalls war es Celia immer so ergangen. Und genauso fühlte sie sich, als sie am späten Donnerstagmorgen beim Erwachen bemerkte, dass sie zum ersten Mal seit Tagen beinahe schmerzfrei war und wieder klar denken konnte. Der Druck in ihrem Schädel und der Schleier vor ihren Augen waren verschwunden, keine heißen Schauer und Stromschläge mehr, keine Schweißausbrüche, nur erleichtertes Aufatmen und Durchschnaufen. Sie war wieder aufgetaucht. Sie hatte es bis nach Fingringhoe Wick geschafft!
    »Na, du machst ja Sachen«, wurde sie augenzwinkernd von Maureen begrüßt, die auf dem Stuhl saß, auf dem gestern Mr. Ingram gesessen hatte. Auf dem Beistelltisch standen eine dampfende Schüssel Grießbrei und ein Becher Milch. Daneben ein Glas mit Honig. »Hast du Hunger? Möchtest du Milch? Dein reicher Freund hat es an nichts mangeln lassen.« Sie lachte, deutete auf das Glas und sagte: »Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal Honig gegessen habe. Mr. Ingram hat sogar Orangen besorgt, damit du wieder auf die Beine kommst.«
    »Er ist nicht mein Freund«, sagte Celia und verschlang den Grießbrei, der mit Zimt und Zucker gesüßt war. Eine Köstlichkeit! Zugleich aber fühlte sie sich beklommen, weil sie nicht wusste, womit sie die Freundlichkeit und die teuren Zuwendungen dieses seltsamen jungen Mannes verdient hatte. Oder was er in Zukunft als Gegenleistung dafür erwarten mochte.
    »Woher kennst du diesen Ingram?«, fragte Maureen neugierig. »Er hat nur so komisch rumgedruckst, als ich ihn danach gefragt habe. Wollte offensichtlich nicht darüber reden.«
    »Ich kenne ihn nicht«, antwortete Celia wahrheitsgemäß. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen. Ganz zufällig und flüchtig. Es ist nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst. Das musst du mir glauben, Maureen!«
    »Und wieso macht er dann das alles?« Sie deutete auf die Arzneien auf dem Tisch und setzte hinzu: »Er hat seit Dienstag fast ununterbrochen an deinem Bett gesessen und dich gepflegt. Wie so ’ne Florence Nightingale. Obwohl du ihn in deinem Fieber ziemlich beschimpft hast.«
    »Oh, wie schrecklich!«, rief Celia und ließ den Löffel sinken, den sie mit der linken Hand ohnehin nicht gut halten konnte. »Ich schäme mich so.«
    »Das musst du nicht«, erwiderte Maureen und rührte Honig in die Milch. »Du wusstest ja nicht, was du tust. Und Mr. Ingram hat es dir nicht übel genommen. Er war ganz rührend besorgt um dich. Das waren wir beide.«
    »Er hat ein schlechtes Gewissen«, sagte Celia und starrte dabei auf ihren rechten Unterarm, der nur noch bis knapp über dem Handgelenk verbunden war. Die Haut oberhalb des Verbands war ganz gelb vom Jod und Karbol. Aber nicht mehr rot wie vor einigen Tagen. Dann sagte sie: »Wegen der Ratten.«
    »Ratten?«
    Celia berichtete der sichtlich erstaunten Maureen von ihren beiden Begegnungen mit Rupert Ingram. Von ihrem Zusammenstoß mit dem hochnäsigen Gentleman am Bahnhof und der schmerzhaften Begegnung mit dem einfachen Arbeiter im Fackelzug. Sie erzählte von den beißenden Ratten, von der Skeleton Army und den fliegenden Farbbeuteln und Steinen. Und von der schallenden Ohrfeige durch Captain Eva Booth.
    Maureen starrte sie an, als glaubte sie ihr kein Wort. Vermutlich überlegte sie, ob Celia immer noch im Fieber fantasierte, doch schließlich sagte sie: »Das klingt nicht nach dem Mr. Ingram, den ich in den letzten Tagen kennengelernt habe.«
    Celia überlegte, ob sie Maureen auch von dem Mann mit den Raubvogelaugen erzählten sollte. Von Mr. Ingrams verwahrlostem Skeleton-Freund, der vor einem Bild der Liebe geweint hatte und erschrocken vor einem berühmten Dichter davongelaufen war. Doch dann sah sie davon ab. Es hätte zu verrückt geklungen.
    »Es tut mir leid«, sagte sie, »dass ich dich enttäuscht habe.«
    »Nicht doch! Du warst krank, Celia!«, antwortete Maureen kopfschüttelnd. »Dir muss nichts leidtun. Ganz im Gegenteil.« Sie wandte

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