Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
Adresse in Mayfair. Hatchett’s Hotel von Mr. & Mrs. Harvey Ingram. 67 Piccadilly.
    Ingram! Jetzt wusste Celia, wieso ihr der Name so bekannt vorgekommen war. Sie hatte ihn schon oft im Reiseführer gelesen. Und sie dachte an Maureens Worte: Lesen schadet!

SIEBTER TEIL

    RUPERT INGRAM
    »It is not how many years we live,
but rather what we do with them.«
    (»Es geht nicht darum, wie viele Jahre wir leben,
sondern vielmehr darum, was wir mit ihnen anfangen.«)
    Eva Cory Booth

DONNERSTAG, 25. OKTOBER 1888
    1
    Während ich in Epsom auf meinen Anschlusszug nach Dorking wartete, verwünschte ich meine wöchentlichen Besuche in Bury Hill und die ganze verdammte Sippe der Barclays, zu der ich bald selbst gehören sollte. Zum Teufel mit ihnen! Dabei waren es gar nicht der Widerwillen gegen meine zukünftige Braut Meredith oder die Aussicht auf ermüdende Gespräche mit meinem langweiligen Schwiegeronkel Robert, die meine Laune trübten, sondern die unerledigten und verwirrenden Angelegenheiten in London, die mich mürrisch im Wartesaal der ersten Klasse hocken ließen. Ungeachtet des Rauchverbots zündete ich mir eine Zigarette nach der anderen an. So viele drängende Fragen hatten sich in den vergangenen Tagen in meinem Kopf angehäuft, und so wenige Antworten hatte ich bislang erhalten. Jedenfalls keine befriedigenden oder umfassenden. Denn jede Erklärung hatte eine weitere Unklarheit gebracht, und jedes neue Puzzleteil hatte das Gesamtbild nur noch verworrener gemacht.
    Hinzu kam das schlechte Gewissen. Statt am Krankenbett der armen Celia zu sitzen und mich darum zu kümmern, dass ihre Genesung weiterhin gut voranschritt und das verzehrende Fieber endgültig gebannt wurde, vergeudete ich wertvolle Zeit mit meinen nichtigen Privataffären in Surrey. Aber war Celia Brooks inzwischen nicht auch eine Art Privataffäre geworden? Spätestens seit meinem gestrigen zweiten Besuch beim Fotografen in der Fenchurch Street? Seitdem ich den Namen meines Vaters im Auftragsbuch des einstigen Fotostudios Newcombe gelesen hatte. Vermutlich hatte ich Celia auch deshalb zu meiner persönlichen Angelegenheit gemacht und mich ihretwegen sogar über jede Form des Anstands und alle Regeln der Etikette hinweggesetzt. Die Vorstellung, dass Celia in Maureen Watsons Abwesenheit von der widerlichen Mrs. Adams oder ihrem begriffsstutzigen Dienstmädchen gepflegt würde, war mir so unerträglich gewesen, dass ich sie kurzerhand fortgeschickt und mich ganz allein um die Kranke gekümmert hatte. Wider alle Anstandsvorschriften.
    Auch den Arzt, einen griesgrämigen Deutschen namens Liebermann, hatte ich des Zimmers verwiesen. Am Dienstagabend, mehr als zehn Stunden, nachdem man ihn benachrichtigt hatte, war er in der White Horse Lane erschienen und hatte sich als Erstes darüber mokiert, dass man ohne sein Wissen oder seine ärztliche Anleitung mit der Behandlung der Kranken begonnen habe. So etwas sei lebensgefährlich und könne von ihm unter keinen Umständen toleriert werden, schimpfte er und besah sich die »Bescherung«, wie er es nannte. Er kontrollierte den Lister’schen Verband, musterte die geöffnete und gereinigte Wunde, prüfte die Fläschchen mit Karbol und Jod und meckerte anschließend, warum man überhaupt nach ihm geschickt habe, wenn man doch offensichtlich alles besser wisse und seine ärztliche Autorität so augenfällig untergrabe. Auf meine Frage, was wir denn falsch gemacht hätten oder ob etwas an dem Wundverband geändert werden müsste, wusste er keine Antwort, nuschelte etwas Unverständliches auf Deutsch und erging sich schließlich in Fragen des Prinzips und der medizinischen Grundsätze. Wenn jeder dahergelaufene Laie sich zum Arzt aufschwinge, wäre die Menschheit bald durch Krankheiten und Seuchen ausgerottet. Dass das arme Mädchen trotz meiner dilettantischen Heilversuche noch am Leben sei, habe sie lediglich einem glücklichen Schicksal zu verdanken.
    » Ihre Heilkunst hatte jedenfalls nichts damit zu tun!«, rief ich aufgebracht, packte ihn beim Kragen und geleitete ihn aus der Wohnung. Sein spätes Erscheinen ließ er sich dennoch fürstlich entgelten, immerhin habe er wichtige Notfälle hintenangestellt, nur um sich um solche Lappalien zu kümmern.
    Ich gab ihm sein Geld und schickte ihn, unter den missbilligenden Blicken der Zimmerwirtin, zum Teufel. Mrs. Adams und ihr Dienstmädchen wechselten vielsagende Blicke, schüttelten ihre unansehnlichen Köpfe und führten den sichtlich pikierten

Weitere Kostenlose Bücher