Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
»Eine den Mord betreffende Information, die wichtig sein könnte, wurde gestern der Leman Street Polizei von einem Ungarn gegeben.« Dieser Ungar habe auf der Wache ausgesagt, er sei in der besagten Nacht um Viertel vor eins die Berner Street entlanggegangen und habe in der Durchfahrt, in der wenig später die Leiche der Ermordeten gefunden wurde, einen Mann und eine Frau stehen sehen. Der Mann habe getorkelt, als wäre er betrunken gewesen, und habe sich lautstark und handgreiflich mit der Frau gestritten. Der Ungar habe den Mann als eine gedrungene Erscheinung mit schwarzem Filzhut, dunkler Kleidung und einem buschigen Schnauzbart beschrieben.
Bei der Erwähnung des Schnauzbarts und der gedrungenen Gestalt fuhr mir ein Schreck in die Glieder. Sofort dachte ich an Michael Kidney, Elizabeths Freund und Zuhälter, dem ich in der Nacht vor ihrem Tod geholfen hatte, sie aus dem Frauenasyl zu locken. Und erneut kam mir die Aussage dieses Mannes vor dem Coroner in den Sinn. Laut Times hatte Kidney bei der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache behauptet, seine Freundin mehrere Tage vor ihrem Tod zum letzten Mal gesehen zu haben.
»Gerald Blacksmith«, hörte ich den korpulenten Herrn gegenüber sagen.
»Bitte?« Ich nahm die Zeitung herunter und sah den Mann verwirrt an.
»Mein Name«, sagte er und paffte mir den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht. »Sie sagten: Michael Kidney. Und ich sage: Gerald Blacksmith. Freut mich, Mr. Kidney.«
»Ganz meinerseits«, log ich, nahm die Zeitung aber rasch wieder hoch und vertiefte mich erneut in meine Lektüre. Die Aussage des Ungarn war mit der Beschreibung des schnauzbärtigen Mannes noch nicht beendet. Was nun folgte, ließ mich aufmerken, denn es widersprach allem, was ich bislang über die Morde des Rippers gelesen oder gehört hatte. Der Ungar habe aus Angst die Straßenseite gewechselt und von dort einen zweiten Mann gesehen, der vor einer Eckkneipe gestanden und den Mann mit dem Schnauzbart durch lautes Zurufen gewarnt habe. Dieser zweite Mann sei drohend auf den Ungarn zugetreten und habe ein Messer in der Hand gehalten. Daraufhin sei der Zeuge Hals über Kopf davongelaufen, ohne sich darum zu kümmern, was hinter seinem Rücken geschehen sei.
Ein zweiter Mann mit einem Messer. In keinem anderen Bericht, den ich über Jack the Ripper gelesen hatte, war von einem zweiten Mann die Rede gewesen. Der Frauenmörder war ein Einzeltäter, davon gingen sowohl die Ermittler als auch die Reporter von der Presse aus. Ein einzelner Wahnsinniger, der nachts im East End umherstreifte und seine Opfer nach dem Zufallsprinzip aussuchte. Und wieder kam mir in den Sinn, was ich bereits nach der Lektüre des Artikels in der Times gedacht hatte: Der Mord an Elizabeth Stride passte nicht ins Muster. Er passte nicht zum Ripper.
»Schlimme Sache«, sagte der Dicke. Offensichtlich las er die Rückseite meiner Zeitung. »Nicht zu fassen.«
»Der Ripper?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete er und lachte wie über einen Witz. »Sollen die sich in London ruhig gegenseitig die Gurgel durchschneiden. Was kümmert’s mich. Ich meine die Kohlepreise. Soll kalt werden diesen Winter. Und Zugfahrten werden vermutlich auch wieder teurer.«
»Ja, wirklich schlimm«, sagte ich. »Bald werden wir uns nur noch die zweite Klasse leisten können.«
»Gott bewahre!«, rief Mr. Blacksmith und verschluckte sich am Pfeifenrauch.
Ich räusperte mich, wandte mich ab und überflog den Artikel erneut. Die Ausführungen über den namentlich nicht genannten Ungarn endeten mit dem etwas ungelenken Satz: »Die Wahrheit der Aussage des Mannes wird nicht völlig akzeptiert.« Leider wurde in dem Artikel nicht gesagt, warum dem Mann nicht geglaubt wurde. Weil er ein Ausländer war? Weil er womöglich in der Mordnacht betrunken gewesen war? Oder weil er etwas ausgesagt hatte, was der allseits vorgefassten Meinung widersprach? In dem Artikel über die gerichtliche Untersuchung wurde der geheimnisvolle Ungar jedenfalls nicht erwähnt. Offenbar hatte man es nicht für nötig befunden, ihn vorzuladen. Man hatte seine Erzählung dem Reich der Fantasie zugeordnet und auf seine Aussage vor dem Coroner verzichtet.
Wer weiß, vielleicht wäre er dort Michael Kidney begegnet und hätte in ihm den gedrungenen Mann mit dem Schnauzbart wiedererkannt. Und ihn als Lügner entlarvt. Oder Schlimmeres.
2
Es war kurz vor zehn Uhr, als ich, wie an jedem Donnerstag, den Bahnhofsvorplatz betrat. Der Bahnhof der Brighton-Linie befand
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