Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Dr. Liebermann nach unten.
Dass die Wirtin und der Arzt mich vermutlich für Celias Liebhaber hielten und dass mein Benehmen für Außenstehende in höchstem Maße anstößig erscheinen musste, kümmerte mich wenig. Erst einmal musste das Mädchen gesund werden, mit Arzt oder ohne. Auf etwaige Verletzungen irgendwelcher Moralregeln oder Ehrbegriffe konnte ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Jedenfalls was meine Person betraf. Dass der Ruf der kleinen Celia keinen Schaden nehmen würde, dafür würde ich schon Sorge tragen.
Meine Gedanken wanderten wieder zu meinem Vater zurück. Als ich gestern, am späten Mittwochnachmittag, zum zweiten Mal im Fotoladen der Gebrüder Taylor erschienen war und man mir voller Stolz den großformatigen Abzug eines Fotos und das vergilbte Geschäftsbuch des Jahres 1867 präsentiert hatte, war ich einerseits überrascht gewesen und hatte andererseits lediglich bestätigt gefunden, was ich bereits seit einiger Zeit vermutet hatte. Das Foto, auf dem Celias Mutter in weißem Sonntagskleid zu sehen war, ähnelte dem Gemälde, das bis vor Kurzem in Vaters Büro gehangen hatte, auf verblüffende Weise. Es zeigte die gleiche junge Frau mit dem gleichen forschen Blick, allerdings ohne das pittoreske Brimborium, das Simeon dem späteren Hirtengemälde hinzugefügt hatte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass das Foto viel älteren Datums war, hätte ich darauf gewettet, dass es niemand anderen als Celia Brooks zeigte.
Doch das Auftragsbuch des C. T. Newcombe ließ keinen Zweifel. Das Foto war vor nunmehr einundzwanzig Jahren, im Jahr 1867, aufgenommen worden, und neben der Nummer des Negativs war eine Lieferadresse vermerkt: Mr. Harvey Ingram, Hatchett’s Hotel, 67 Piccadilly, London W. Darunter stand mit doppelter Unterstreichung: »Persönlich!«.
Wenn das Foto an meinen Vater geliefert worden war, warum befand es sich dann in Celias Besitz? Hatte er es Celias Mutter geschenkt? Oder gab es mehrere Abzüge des Bildes? Und wieso hatte mein Vater vor etwa acht Jahren das riesige Gemälde in Auftrag gegeben? Grays diesbezügliche Fragen kamen mir wieder in den Sinn: »Wieso malt jemand ein Foto ab? Ist das nicht irgendwie Unsinn?« Und wer war der Mann gewesen, der Simeon das Foto als Vorlage für das Gemälde überbracht hatte? »Das war kein Gentleman«, hatte Simeon gesagt, »vielleicht ein Handwerker oder einfacher Ladenbesitzer.«
Gern hätte ich meinem Vater all diese Fragen gestellt, doch leider befand er sich seit dem gestrigen Mittwoch auf Geschäftsreise an der Südküste und würde erst heute am späten Abend wieder in London sein. Ich musste mich also wohl oder übel gedulden und ärgerte mich über meinen Vater. Als ich ihn gefragt hatte, wer die Frau in Weiß auf dem Gemälde sei, hatte er »irgendeine Hirtin« zurückgegeben und betont ahnungslos die Achseln gezuckt. Bei einer Auktion habe er das Gemälde ersteigert. Weil ihn die Hirtin an unsere Mutter erinnert habe. Heuchler!
Mary Brooks. Ihr Name was das Einzige, was Maureen Watson mir über Celias verstorbene Mutter hatte mitteilen können. Und dass Celia auf der Suche nach ihrem verschollenen Vater war. Ned Brooks. Einem schiffbrüchigen Seemann und mutmaßlichen Kannibalen des Meeres, der seine blutrünstige Geschichte in schäbigen Kuriositätenkabinetten im East End zur Schau gestellt hatte. Das hatte zumindest Miss Watson behauptet. Doch auf welche Weise mein Vater mit der aus einem kleinen Dorf in Essex stammenden Familie Brooks verbandelt war, konnte auch sie mir nicht erklären. Dass die hübsche Mary seine Mätresse gewesen sein musste, lag nahe, doch alles andere war mehr als ungewiss. Und auch Celia war nicht in der Lage gewesen, auf diese Fragen zu antworten. Sie hatte mich lediglich wie einen Unhold angestarrt und ein ums andere Mal im Fieberwahn als »Teufel!« beschimpft.
Es war schon eine äußerst seltsame Fügung des Schicksals, die uns alle in diesen Tagen im Londoner East End zusammengeführt hatte. Simeon, Celia und mich. Im Gewimmel eines Fackelzugs. Ein merkwürdiges Dreigestirn. Besiegelt durch den Biss einer Ratte. Und wieder überkam mich das schlechte Gewissen, weil ich es gewesen war, der für Celias Leiden verantwortlich war. Der sie krank gemacht hatte. Die Männer der Familie Ingram schienen den Frauen der Familie Brooks nicht gutzutun. Wie Wölfe und Schafe.
Der Zug der London, Brighton and South Coast Railway fuhr mit lautem Zischen und gellendem Pfeifen ein. Ein Bahnbediensteter
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