Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
öffnete die Tür zum Wartesaal, hustete geziert und verwies auf das Rauchverbot im Warteraum. Im Raucherabteil der ersten Klasse könne ich gern rauchen, setzte er mit einem Bückling hinzu, nachdem er meinen Fahrschein kontrolliert hatte. Ich nickte, gab ihm ein Trinkgeld und bestieg den Wagen im vorderen Teil des Zuges.
Während der etwa vierzigminütigen Fahrt, die von Epsom aus in großem Bogen über Leatherhead nach Dorking führte, dachte ich an Maureen Watson, die sich so rührend um Celia gekümmert hatte. Gerade so, als wäre das Mädchen ihre Schwester oder Freundin und nicht eine Dienstmagd. Und ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie Miss Watson wohl auf der Bühne im People’s Palace aussehen mochte. Im knappen und durchscheinenden Trikot. Am gestrigen Abend war sie direkt nach der Vorstellung im Bühnenkostüm und mit vollem Make-up nach Hause geeilt und hatte lange meine Hand geschüttelt, als wollte sie mich festhalten. Ich hatte ihr in das bleich geschminkte Gesicht gestarrt, um nicht in ihr tiefes Dekolleté zu schauen, das unter dem Mantelkragen hervorlugte. Maureen Watson aus Blackburn, Lancashire, wie unschwer an ihrem nördlichen Tonfall zu erkennen war. Eine ausnehmend schöne Tingeltangel-Darstellerin in reizender Aufmachung. Noch vor wenigen Tagen hätte sie genau in mein Beuteschema gepasst und meinen Jagdinstinkt geweckt. Wölfe und Schafe! Doch es war nichts mehr wie vor wenigen Tagen. Ich war nicht mehr wie zuvor.
Um meine wirren Gedanken in eine andere Bahn zu lenken, griff ich nach den Ausgaben des Star , die Gray mir am Morgen vor dem Hatchett’s eilig in die Hand gedrückt hatte. »Für die Zugfahrt«, hatte er gemeint und überflüssigerweise hinzugesetzt: »Was zu lesen, Boss.«
Mein plötzliches Interesse für den Ripper und unsere gemeinsame Suche nach Zeitungsartikeln über die Ermordung der Elizabeth Stride schienen den Ehrgeiz des Jungen angestachelt zu haben. Sein Wunsch, mir zu Diensten zu sein, und sein eigenes Interesse an den mörderischen Vorfällen in Whitechapel hatten ihn zu einem alten Freund aus dem East End geführt, der den Star als Zeitungsjunge auf der Straße verkaufte. Dieser Freund, Eddie, hatte wiederum seinen Onkel gefragt, der als Packer in der Druckerei der Zeitung arbeitete, und so hatte der emsige Gray binnen weniger Tage mehrere Ausgaben des Star ergattert, in denen der Doppelmord des 30. September in aller Ausführlichkeit behandelt wurde.
Zwar hatte ich mittlerweile fast alles erfahren, was ich über den gewaltsamen Tod von Long Liz – und meinen bedauerlichen Anteil daran – hatte wissen wollen, doch die Lektüre über den unheimlichen Frauenmörder würde mich zumindest vorübergehend von dem ablenken, was mich derzeit beschäftigte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Und so stöberte ich in den billigen Halfpenny-Blättern, die sich so auffallend von den seriösen Zeitungen unterschieden, die ich üblicherweise las. Weil der bestialische Mord an Catherine Eddowes um einiges schockierender war als der an Elizabeth Stride, handelten die Artikel zumeist von dem jüngsten Mord am Mitre Square. Waren die Schilderungen in der Times schon schwer zu verdauen gewesen, so weideten sich die Reporter des Star regelrecht am Blut der Ermordeten. Die Sensationsgier und perverse Faszination, die aus jeder Zeile sprachen, waren mir so zuwider, dass ich die Zeitungen rasch beiseitelegte.
»Lesen Sie das über den Ungarn, Boss!«, hatte Gray mir am Morgen mit auf den Weg gegeben und auf die Ausgabe des 1. Oktober gedeutet. »Eddies Onkel sagt, dass der Ungar alles gesehen hat, auch wenn ihm keiner glauben will.«
»Wem?«, hatte ich gefragt. »Eddies Onkel oder dem Ungarn?«
Gray hatte, wie üblich, den Witz nicht verstanden, mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Lesen Sie selbst, Sir!«
Widerwillig griff ich nach der Zeitung, auch weil ich mich so vor den neugierigen Blicken eines mir gegenübersitzenden, stark übergewichtigen Mannes verstecken konnte, der völlig ungeniert auf mein verkrustetes Muttermal starrte und dessen offen stehender Mund befürchten ließ, dass er gleich ein Gespräch anfangen wollte.
Ich schlug die Zeitung auf und hielt sie mir schützend vors Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis ich den entsprechenden Artikel gefunden hatte. Der Abschnitt, den Gray gemeint hatte, befand sich ganz unten auf der zweiten Seite und war in einen längeren Text über den Mord in der Berner Street eingebunden. Der Absatz begann mit den Worten:
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