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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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»Ich meine Mr. Ingram.«
    »Kein Hiesiger«, lautete seine vernichtende Antwort.
    »Nicht einmal ein Zugezogener«, setzte ich bestätigend hinzu und schaute durch das Fenster auf den See, der fast bis an das höher gelegene Herrenhaus heranreichte und mit seinen geschwungenen Buchten, weidenbestandenen Ufern und kreisrunden Inselchen ausgesprochen malerisch und idyllisch wirkte. Zu hübsch, um wahr zu sein. Der gekünstelte Traum eines Landschaftsarchitekten.
    »Haben Sie vielen Dank, Mr. Blacksmith«, verabschiedete ich mich, stieg aus dem Cabriolet und wunderte mich, dass keiner der Bediensteten herauskam, um mich zu begrüßen und mit einem Regenschirm zum Haus zu geleiten.
    »Meine Empfehlung an Mr. Barclay und seine verehrte Gemahlin«, antwortete er und streckte seinen massigen Kopf zum Fenster hinaus. »Stimmt es, dass sie wieder in anderen Umständen ist?«
    Ich antwortete mit einem verlegenen Lächeln.
    Er nickte wissend und sagte: »Eine ganz formidable Familie.« Damit zog er den Kopf zurück und ließ seinen Kutscher den Wagen wenden. »Cheerio, Mr. Kidney.«
    Ich stieg die breite Freitreppe zum Eingang hinauf, doch noch immer kam mir kein Bediensteter entgegen. Die Frontseite des Hauses lag wie verlassen da, kein Mensch war auf dem Gelände zu sehen, was ich mir auch durch den strömenden Regen erklärte. Bei dem Wetter schickte man keinen Hund vor die Tür.
    Es dauerte eine Weile, bis auf mein Klopfen hin geöffnet wurde, und als ich in triefender Kleidung die riesige Halle betrat, starrte mich der Hausdiener Joe an, als wäre ich ein Gespenst.
    »Mr. Ingram?«, fragte er erstaunt.
    »Wie er leibt und lebt«, antwortete ich verwirrt und reichte ihm meinen Mantel und meinen Hut. »Wie jeden Donnerstag. Leider war keine Kutsche am Bahnhof. Haben Sie mich vergessen?«
    »Die Kutschen sind unterwegs«, antwortete er mit verkniffener Miene.
    »Alle?«, wunderte ich mich.
    »Ja, Sir«, sagte er und räusperte sich. »Alle.«
    »Und wo sind sie?«
    »Unterwegs.«
    »Aha. Und wohin?«
    »Sir?« Er zuckte mit den Schultern und kniff die Lippen zusammen.
    »Und Mr. Barclay? Ist er etwa gar nicht in Bury Hill?«
    »Doch. Das heißt, nein. Also nicht mehr.« Wieder zuckte er mit den Schultern, verneigte sich dann und deutete auf die Haushälterin, die in diesem Augenblick aus dem Salon in die Halle trat. »Fragen Sie besser Mrs. Garland, Sir.«
    »Mr. Ingram?«, rief Mrs. Garland bei meinem Anblick erstaunt.
    »Was ist denn heute los?«, entfuhr es mir. »Wo stecken denn alle?«
    »Haben Sie das Telegramm nicht bekommen, Sir?«
    »Ein Telegramm? Nein!«
    »Oh, wie ärgerlich«, sagte sie und rang sichtlich um Fassung. »Miss Meredith ist unpässlich und kann heute leider niemanden empfangen.«
    »Was hat sie denn?«, fragte ich besorgt und folgte der Haushälterin in den Salon. »Ist sie krank?«
    »Nichts Ernsthaftes«, sagte sie und blickte dabei auf den Teppich, als studierte sie das orientalische Muster. »Nur eine Grippe. Kein Grund zur Sorge. Der Doktor hat ihr einige Tage Bettruhe verordnet.«
    »Und deshalb sind sämtliche Kutschen unterwegs?«, wunderte ich mich. »Und Mr. Barclay ebenfalls?«
    »Nein, deshalb natürlich nicht«, sagte sie, lachte übertrieben und bekam einen roten Kopf. »Wir wussten ja nicht, dass Sie heute kommen würden. Wir dachten, dass Sie das Telegramm rechtzeitig bekämen. Und deshalb …« Statt den Satz zu beenden, rang sie mit den Händen vor der Brust, lächelte verlegen und fragte: »Möchten Sie vielleicht Kaffee, Sir? Oder Tee?«
    »Kaffee wäre mir sehr recht, Mrs. Garland«, antwortete ich und setzte mich in einen Ohrensessel. Während die Haushälterin nach einem Dienstmädchen klingelte und schließlich, da niemand auf das Klingeln reagierte, mit einer hastigen Entschuldigung den Salon verließ, dachte ich über die höchst merkwürdigen Umstände nach. Dass Meredith »unpässlich« war und ich das Telegramm nicht rechtzeitig erhalten hatte, mochte ein bedauernswerter Zufall sein, erklärte aber nicht, warum mich alle so panisch und gehetzt anstarrten. Und dabei zugleich jeden Augenkontakt mieden, als hätten sie Angst, unter meinem Blick zu versteinern.
    Während ich noch meinen Gedanken nachhing, erschien ein Hausmädchen mit dem Kaffee und richtete aus, Mrs. Garland habe den Stallburschen in die Stadt geschickt, um eine Mietdroschke zu bestellen. Der nächste Zug nach Epsom gehe um Mittag, und wenn der Kutscher sich beeile, könne ich den Anschlusszug

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