Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
sich am nördlichen Ende von Dorking und war vom Landsitz Bury Hill, der südwestlich der Stadt lag, mehr als drei Meilen entfernt. Normalerweise wartete immer eine Kutsche auf mich, um mich zum Landhaus der Barclays zu bringen, doch heute war davon nichts zu sehen. Kein Kutscher weit und breit. Da ich immer den gleichen Zug nahm und die Bahn heute keine Verspätung hatte, war ich etwas überrascht und stand ratlos in der Gegend herum. Wie so oft in den letzten Tagen hatte prasselnder Regen eingesetzt, der vom stürmischen Nordwind über das Pflaster gepeitscht wurde. Dummerweise hatte ich meinen Regenschirm vergessen.
    Eine kleine Stichstraße führte von der London Road zum backsteinernen Bahnhof, der mit seinen zwei symmetrischen Holzgiebeln und dem Portal in der Mitte genauso aussah wie so viele Bahnhöfe, die in Surrey in den letzten Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Ein altmodisches und recht klobiges Cabriolet mit geschlossenem Verdeck näherte sich auf dem Kopfsteinpflaster und hielt direkt vor mir.
    Ich wunderte mich über die sonderbare Kutsche, die so gar nicht zu den Barclays passen wollte. Auch der Kutscher irritierte mich, denn er war nicht livriert, sondern trug die schlichte Kleidung eines Landmannes oder Arbeiters. Ich fragte ihn: »Kommen Sie von Bury Hill?«
    »Nein, Sir, Harelands Farm«, antwortete der Mann, schaute an mir vorbei und lüpfte plötzlich den ledernen Schlapphut.
    »Der Wagen gehört zu mir«, hörte ich im selben Augenblick eine donnernde Stimme hinter mir. »Kann ich Sie mitnehmen, mein Guter? Bury Hill liegt beinahe auf dem Weg. Ist jedenfalls kein großer Umweg.«
    Als ich mich umwandte, schaute ich in das jovial grinsende Gesicht des dickleibigen Mannes, der einladend auf sein vorsintflutliches Gefährt wies. Wie war doch gleich sein Name? Richtig, Blacksmith! Gerald Blacksmith.
    »Vielen Dank, Mr. Blacksmith«, sagte ich. »Aber das wird nicht nötig sein. Vermutlich kommt meine Kutsche bald. Und wenn nicht, dann nehme ich mir eine Mietdroschke.«
    »Sehen Sie irgendwo eine?«, lachte der Dicke und machte eine ausladende Geste mit seiner rechten Pranke. »Dorking ist nicht London, Mr. Kidney. Da steht nicht an jeder Ecke ein Mietwagen herum. Nicht einmal am Bahnhof, wie Sie sehen.«
    Das war auffallend richtig, wie ich verwundert feststellte.
    »Vor den Hotels in der High Street finden sie natürlich welche«, fuhr Blacksmith fort, spannte seinen Regenschirm auf und legte seinen Arm um meine Schulter. »Aber bis Sie dort sind, sind Sie klitschnass. Kommen Sie ruhig mit, Verehrtester. Es ist kein großer Umweg. Mein Hof ist nur eine halbe Meile von Bury Hill entfernt. Sind Sie ein Freund der Barclays? Oder ein Verwandter?«
    »So was Ähnliches«, antwortete ich ausweichend, und im nächsten Moment saß ich im Fond des Cabriolets und starrte in das strahlende Gesicht des übergewichtigen Landherrn. Seine Augen funkelten neugierig, und sein Mund öffnete sich hoffnungsfroh. Und diesmal hatte ich keine schützende Zeitung zur Hand.
    Während der knapp halbstündigen Fahrt mit der klapprigen Kutsche erfuhr ich allerlei Wissenswertes und noch mehr Unnützes über die Stadt Dorking, die Harelands Farm, das Gut der Familie Barclay, die Geschichte von Bury Hill und die Bewohner der Gegend. Mr. Blacksmith bildete sich eine Menge darauf ein, dass so viele angesehene Familien ihre Landsitze in der Umgebung von Dorking hatten, und er schien seine eigene Sippe ebenfalls zu diesen zu zählen. Sein Name verriet allerdings, dass sein Hof, der inmitten der waldigen Hügel von Harelands Woods lag, einstmals eine Schmiede gewesen war. Vermutlich hatte sie bis vor einigen Jahrzehnten zum Anwesen von Bury Hill gehört.
    Über seine Nachbarn und ehemaligen Gutsherren wusste Mr. Blacksmith nur Gutes zu berichten. Ganz formidable Leute, wie er betonte. Nicht nur wegen des Bieres. Auch wenn sie natürlich Zugezogene seien und Bury Hill erst vor siebzig Jahren erworben hätten.
    »Siebzig Jahre?«, wunderte ich mich. »Da kann man kaum noch von Zugezogenen sprechen, oder?«
    Er schaute mich an, als hätte ich gerade etwas ausgesprochen Dummes gesagt. So dumm, dass es darauf nichts zu erwidern gab.
    »Kennen Sie Miss Meredith und ihren Zukünftigen?«, fragte ich grinsend, als wir die Landstraße verließen und die breite und lang gezogene Auffahrt zum Gutshaus hinauffuhren.
    »Meinen Sie ihren Cousin Frederick aus Guildford?«
    »Nein, natürlich nicht«, wunderte ich mich.

Weitere Kostenlose Bücher