Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
und hob bedauernd die Achseln. »Aber er ist vor zwei Jahren gestorben. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Kaum anzunehmen«, antwortete ich und schüttelte den Kopf. »Danke.«
»Zu Diensten«, sagte der Wirt, hob neugierig die Augenbrauen und wandte sich an meinen Vater: »Und für Sie, Sir? Auch ein Porter? Barclay’s Stout vielleicht?«
»Grog«, sagte mein Vater.
»Grog?«, wunderte ich mich. »Seit wann trinkst du Grog?«
»Mit Zucker?«, fragte der Wirt.
»Und Zimt«, antwortete mein Vater. »Und etwas Muskatnuss.«
»Oho!«, rief Webster erfreut. »Wie die guten alten Piraten der Karibik. Süß und stark. Wird hier nicht oft getrunken. Sind Sie Seemann?«
Vater ignorierte ihn, als wäre er eine Fliege an der Wand, und sagte in meine Richtung: »Mary hat das gern getrunken. Sie nannte es Bumbo oder so ähnlich. Hab sie oft deswegen belächelt.«
Ich wartete, bis der Wirt hinter seinem Schanktisch verschwunden war, wo ein letzter verbliebener Gast mit glasigen Augen auf sein halbleeres Bierglas starrte. Dann fragte ich: »Hat sie als Schankmädchen gearbeitet?«
»Als ich sie kennenlernte, war sie ein Pot-Girl«, antwortete er lächelnd. »So nannte man damals die Mädchen, die die Bierkrüge und Teller einsammelten. Später hat sie auch hinter der Theke gearbeitet und die Gäste bedient. Rodney Webster war schließlich kein Dummkopf. Ein gerissener Bursche, aber sicherlich nicht dumm.«
»Das können Sie laut sagen«, rief Webster junior, der unbemerkt wieder an unseren Tisch getreten war und mir nun das Bier vor die Nase stellte. »Gerissen trifft’s genau, Sir. Andere nannten ihn auch einen ausgemachten Halunken.« Er lachte und setzte hinzu: »Der Grog kommt sofort. Muss erst noch das Wasser heiß machen.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich meinen Vater, ohne auf den Wirt zu achten, der tatsächlich etwas von einer lästigen Stubenfliege hatte.
»Du hast das Foto gesehen«, antwortete er und holte eine Zigarre aus der Innentasche seines Mantels. »Es gab nicht wenige Männer, die nur ihretwegen in die Kneipe kamen. Wie Eisenspäne zum Magneten. Obwohl sie es gar nicht darauf angelegt hatte.«
»So ein magnetisches Schankmädchen könnte ich auch gebrauchen«, sagte Webster grinsend. Er nahm den Glaszylinder von der Lampe, hielt meinem Vater den brennenden Docht vor die Zigarrenspitze und fragte: »Wie war doch gleich der Name? Mary?«
»Wollten Sie nicht Wasser heiß machen?«, fragte ich ihn in einem wenig freundlichen Ton.
»Bin schon weg«, antwortete er, stellte die Lampe ab und hob abwehrend die Hände. »Will mich ja nicht einmischen. Käme mir gar nicht in den Sinn.«
»Wann war das?«, fragte ich meinen Vater, nachdem Webster in der Küche verschwunden war.
»Im Frühjahr 1867«, antwortete er und starrte auf seine qualmende Zigarrenspitze, um mir nicht ins Gesicht schauen zu müssen. »Am 24. Mai.«
»Das weißt du noch so genau?«, wunderte ich mich, überlegte einen Moment und begriff dann. »Der Geburtstag der Königin. Du hast sie bei einer Feier im George kennengelernt?«
Er nickte, stieß eine Rauchwolke aus und schaute ihr versonnen nach. »Den Tag werde ich nie vergessen. Ich war eigentlich nur hier, um nach dem Rechten zu schauen und weil Webster mit der Pacht in Rückstand war. Wie beinahe immer. Und dann habe ich sie gesehen, dort drüben neben dem Schanktisch. Mary war einfach bezaubernd. Ich habe mich vom Fleck weg in sie verliebt, wie ein grüner Jüngling, dabei war ich damals schon fast vierzig Jahre alt. Und nicht nur ich hab mich in sie verguckt. Webster war auch hinter ihr her, das hat Mary mir später erzählt. Hat sie ständig bedrängt und konnte die Hände nicht von ihr lassen. Bis ich ihm auf seine schmierigen Finger gehauen habe. Und natürlich dieser junge Seemann aus Essex, Brooks. Wir waren alle wie von Sinnen.« Er unterbrach sich und setzte dann kopfschüttelnd hinzu: »Keine Ahnung, was damals in mich gefahren ist. Es klingt kindisch, und ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber Mary hat mich vom ersten Augenblick an wie behext.«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, antwortete ich und nippte an meinem Bier. Mir meinen Vater als verliebten Galan vorzustellen, fiel mir nicht leicht. Bislang hatte ich immer gedacht, die einzigen Gefühle, die er aufbringen könnte, gälten seinen Hotels und Bankkonten. Leise setzte ich hinzu: »Jedenfalls musst du dich nicht bei mir entschuldigen.«
»Bei wem dann?«, sagte er seufzend. »Bei
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