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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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fahren. Auf diese Weise machten wir einen großen Bogen um die Barclay-Brauerei, an der wir sonst unweigerlich vorbeigefahren wären. Links und rechts der erst vor einigen Jahren gebauten Durchgangsstraße befanden sich riesige Fabriken und Lagerhallen. Die Menier Schokoladenfabrik zur Rechten, Potts’ Essigbrauerei zur Linken und die Hopfen- und Malzbörse am Ende der Straße. Eine seltsame Mischung unterschiedlichster Gerüche lag in der feuchten Luft.
    Unter einer Eisenbahnbrücke, kurz bevor die Southwark Street auf die High Street stieß, ließ Vater den Kutscher anhalten und stieg aus. »Damals sah das alles ganz anders aus«, sagte er und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Nicht diese steinernen Kolosse überall.«
    Ohne darauf zu achten, ob ich ihm folgte, überquerte er die Hauptstraße und ging direkt auf den Eingang des George Inn zu. Diesmal stand keine Kapelle der Heilsarmee vor der schmalen Hofeinfahrt, sondern ein in Lumpen gekleideter Drehorgelspieler mit einem Kapuzineräffchen auf der Schulter, das die quäkenden Töne der Orgel mit ulkigen Mätzchen begleitete.
    Vater betrat den düsteren Hof und zögerte plötzlich. Sein Blick ging zwischen der Schänke im hinteren Teil und den Gastzimmern im vorderen Teil des Gebäudes hin und her. Während der Schankraum erleuchtet war und von dort einzelne Stimmen auf den Hof drangen, lagen die Zimmer hinter den Galerien völlig im Dunkeln. Keine Menschenseele war in der Herberge oder an den hölzernen Balustraden zu sehen. Die einstige Postkutschenstation diente offenbar nur noch als Kneipe, Übernachtungsgäste schienen hier kaum einzukehren.
    Statt die Schänke zu betreten, ging mein Vater zum Kopfende des u-förmig bebauten Hofes. Dort befanden sich eine Remise, mehrere Stallungen und ein kleines einstöckiges Fachwerkhäuschen, das womöglich einmal als Gesindehaus genutzt worden war. Keines der Gebäude schien noch in Verwendung zu sein, die Mauern bröckelten und verfielen, die Türen und Fenster saßen schief in den Angeln oder fehlten, die Schindeldächer waren schadhaft. Lediglich der Pferdestall auf der linken Seite und ein gemauerter Schweinekoben in der Ecke wurden noch benutzt. Das gesamte Anwesen machte einen verfallenen Eindruck.
    »Hier hat sie gewohnt«, sagte mein Vater und deutete auf das leer stehende Häuschen, das durch eine Art Windfang mit der rückwärtigen Küche des Gasthauses verbunden war. »Scheint verlassen zu sein«, setzte er hinzu, nachdem er durch eine zerborstene Scheibe ins Innere geschaut hatte.
    »Das George Inn hat schon bessere Zeiten erlebt«, sagte ich und hielt meinem Vater die Tür zur Schänke auf. »Lass uns hineingehen! Mir wird kalt.«
    »Deswegen habe ich es ja verkauft«, antwortete er und nahm beim Eintreten den Zylinder ab, mit dem er sonst an die niedrige Decke gestoßen wäre. »Früher war Southwark das Tor nach London, überall gab es Kutschstationen und Gasthäuser für Reisende. Heute findet man in den Schänken nur noch Fabrikarbeiter, Sozialisten und Gesindel, das billiges Bier trinkt. Sehr zur Freude von Leuten wie Mr. Barclay.«
    Als wollten sie seine Worte bestätigen, wankten in diesem Augenblick zwei betrunkene Seeleute dem Ausgang entgegen, beäugten mich und vor allem meinen Vater mit stierem Blick und lallten: »Na, Squire, haste dich verlaufen?«
    »Benehmt euch, Jungs!«, rief der Wirt aus dem Hintergrund und wedelte mit einem Tuch über einen Tisch neben dem steinernen Kaminofen. »Wir schließen gleich, meine Herren«, sagte er, schob uns die Stühle zurecht und stellte eine kleine Petroleumlampe auf den Tisch, die er von einer Halterung an der Wand genommen hatte. »Aber für ein letztes Getränk reicht’s noch. Womit kann ich dienen, Sirs?«
    Bei dem jungen Mann handelte es sich um den dürren Kerl mit den abstehenden Ohren, der vor einigen Tagen hinter dem Schanktisch gestanden und sich mit Bruder Adam, dem hitzköpfigen Heilsarmisten, unterhalten hatte. Er schickte den immer noch feixenden Seemännern einen bösen Blick nach und sagte dann mit einem Bückling: »Die Küche ist leider schon kalt.«
    Ich bestellte ein Porter und fragte: »Ist Mr. Rodney Webster zu sprechen?«
    »Steht vor Ihnen, Sir«, antwortete er und verneigte sich erneut.
    »Gibt es noch einen älteren Verwandten mit dem Namen?«, wollte ich wissen und schaute fragend zu meinem Vater, der seit dem Betreten der Kneipe wie versteinert wirkte und keinen Ton herausbrachte.
    »Mein Vater«, erwiderte der Wirt

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