Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
den Rücken fuhr. Ich wollte nicht wissen, wie und wo und wie oft mein Vater es mit seiner Geliebten getrieben hatte. Schon die Vorstellung grauste mich. »Erzähl von dem Foto!«, bat ich und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Wirt den Schlafenden am Kragen packte und heftig schüttelte.
»Das war Marys Idee«, antwortete mein Vater und lächelte nachdenklich. »Sie wollte unbedingt ein Foto von uns. So eine bunt gerahmte Kabinettkarte, die damals ganz modern und schick war. Damit wir beieinander wären, auch wenn wir nicht zusammen sein könnten. So ähnlich hat sie sich ausgedrückt. Sie konnte sehr romantisch sein. Ich war von der Idee natürlich nicht so begeistert.«
»Warum nicht?«
»Weil …« Er sah mich erstaunt an und meinte: »Ein Foto von uns beiden zusammen? Wenn das in die falschen Hände geraten wäre. Wie hätte das denn ausgesehen? Wie hätte ich das erklären sollen?«
»Verstehe«, antwortete ich.
»Ich habe schließlich vorgeschlagen, zwei Fotos machen zu lassen«, fuhr er fort. »Eines von mir für sie und eines von ihr für mich. Das war zwar nicht ganz das, was ihr vorgeschwebt hatte, aber sie hat sich damit zufriedengegeben. Also haben wir es so gemacht.«
Ich nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Aber wieso hatte Celia dann das Foto ihrer Mutter bei sich? Und wo ist das andere Bild? Das Foto von dir?«
»Woher sie das Foto hat, kann ich nur vermuten«, antwortete mein Vater und schnupperte an seinem Grog, als hälfe ihm der Geruch, sich zu erinnern. »Aber das Foto von mir hat Mary verbrannt. Vor meinen Augen. Ich sagte ja, es ist eine verworrene Geschichte. Und eine äußerst unschöne.«
»Wie lange wart ihr zusammen?«, fragte ich und sah, wie der Wirt den taumelnden Gast am Schlafittchen packte und aus der Schankstube zerrte. In unsere Richtung rief er: »Ist gleich Feierabend, die Herren!«
»Etwa ein Dreivierteljahr«, sagte Vater, schob die Tasse von sich und saugte stattdessen an seiner Zigarre. »Anfang des Jahres stellte sich heraus, dass Mary in anderen … also, dass sie … du weißt schon.«
»Ein Kind von dir erwartete«, sagte ich.
»Nicht nur das«, antwortete er und stieß unwirsch den Rauch zur Decke. »Sie erwartete auch, dass ich mich um sie und das Kind kümmerte. Und zwar nicht nur finanziell. Sie wollte, dass ich ihr eine Wohnung in meiner Nähe besorge und das Kind anerkenne. Das war natürlich ganz undenkbar.«
»Natürlich«, murmelte ich missbilligend.
»Ja, natürlich!«, beharrte er und schaute mich befremdet an. »Wie hätte das denn gehen sollen? Was glaubst du, was das für einen Skandal gegeben hätte. Ich war schließlich verheiratet und hatte drei kleine Kinder!«
»Das hat dich nicht davon abgehalten, etwas mit einem Schankmädchen anzufangen«, konterte ich und hielt seinem bohrenden Blick stand.
»Ja, ich weiß. Aber das uneheliche Kind anerkennen?«, antwortete er und senkte den Blick. »Unmöglich! Ich weiß nicht, wie Mary auf diese verrückte Idee kam.«
»Glaubst du, sie wollte ihr Leben lang als Magd in Southwark arbeiten und gleichzeitig die Geliebte eines Gentlemans aus dem West End sein?«
»Ich habe ihr nie irgendwelche Versprechungen gemacht!«, platzte es aus ihm heraus. »Und wenn auch; man darf doch nicht jedes Wort gleich auf die Goldwaage legen!«
Ich unterdrückte einen Kommentar, der womöglich zu harsch ausgefallen wäre, doch mein Vater schien an meinem Blick ablesen zu können, was mir auf den Lippen lag. Er starrte auf seine Finger und murmelte: »Ich wollte, dass es wieder so wird wie zu Beginn, fröhlich und unbeschwert. Ich wollte, dass das Kind …« Er holte tief Luft und sagte dann leise: »Im Club hatte ich von einer Frau gehört, die einigen befreundeten Mitgliedern in vergleichbaren Fällen aus der Patsche geholfen hatte. Eine ehemalige Krankenschwester mit viel Erfahrung auf dem Gebiet, aber davon wollte Mary nichts hören.«
»Eine Engelmacherin?«, rief ich.
»Nicht so laut, Rupert!«, sagte er und schaute besorgt zum Eingang, wo der Wirt dabei war, die Tür zu schließen, einen Holzriegel vorzulegen und die Lampe neben dem Eingang zu löschen. »Mary wollte das Kind unbedingt haben, es war ihr einfach nicht auszureden. Sie konnte fürchterlich eigensinnig sein. Und als sie schwanger war, wurde es immer schlimmer mit ihr. Man konnte einfach nicht mehr vernünftig mit ihr reden. Mir blieb gar keine andere Wahl.«
»Also hast du sie zum Teufel gejagt.«
»Zum Teufel?« Er nahm
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