Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
davonzukommen, als ich einen schmalen, sehr steilen Trampelpfad bemerkte, der linker Hand zum Bahndamm hinaufführte. Zwar wusste ich nicht, wohin der unbefestigte Weg führte, aber schlimmstenfalls könnte ich auf den Gleisen weiter nach Norden laufen.
Ich hatte vermutlich einen Moment zu lange überlegt. Als ich oben auf dem eingleisigen Bahndamm angekommen war, stellte ich erschrocken fest, dass die beiden Männer mich gesehen oder gehört hatten und ebenfalls den Trampelpfad hinaufrannten. Der Weg führte zu einem kleinen Stellwerk neben der Strecke und endete dort. Also blieb mir nichts anderes übrig, als direkt auf den Gleisen weiterzulaufen und zu hoffen, dass ich einen Ausweg fand, bevor ein nächtlicher Güterzug meine Flucht – und womöglich mein Leben – beendete.
Glücklicherweise vermuteten die beiden Männer zunächst, ich würde mich beim Stellwerk vor ihnen verstecken. Während sie das Gelände um das Gebäude absuchten, konnte ich den Vorsprung auf meine Verfolger ausbauen. Die Gleise führten auf steinernen Bögen und zwischen engen Häuserschluchten hindurch direkt nach Norden, wo sie die Royal Mint Street überquerten, bevor sie die Trassen der Blackwall Railway erreichten. Die beiden Männer hatten mittlerweile offenbar ihren Irrtum bemerkt, denn ich konnte hören, dass sie mir auf den Gleisen folgten. Ich war in der Zwischenzeit an der Brücke über der Royal Mint Street angelangt und stellte erleichtert fest, dass eine eiserne Leiter von dem Bahndamm steil nach unten führte und nur etwa zehn Fuß über dem Straßenniveau endete. Schnell kletterte ich hinunter, ließ mich von der untersten Sprosse hinabhängen, sprang aufs Pflaster und rannte davon. Erst rechts, dann links unter der Blackwall-Trasse hindurch, gleich wieder rechts am Bahndamm entlang und schließlich im Zickzack durch die schmalen Gassen, bis ich jede Orientierung verloren hatte und nicht mehr wusste, ob ich mich noch in St. George in the East oder bereits in Whitechapel oder Wapping befand. Da ich die meiste Zeit nach Norden gelaufen war und mich somit vom Fluss entfernt hatte, war der Nebel nicht so dicht wie unten an den Docks.
Meine Verfolger hatte ich offensichtlich abgeschüttelt. Keine hastigen Schritte waren hinter mir zu hören, keine Bewegung im Nebel zu sehen. Als ich einen noch geöffneten Pub an der nächsten Straßenecke bemerkte, wusste ich, dass ich gerettet war. Die Kneipe hieß The Lord Nelson und befand sich an der Ecke Fairclough und Berner Street.
Es durchfuhr mich wie ein Stromschlag. Obwohl ich völlig außer Atem war und mir der Schweiß über die Stirn und in den Nacken lief, war ich sofort hellwach und in höchstem Maße konzentriert. Dies war die Straße, in der Elizabeth Stride ermordet worden war. Und das Lord Nelson war womöglich jene Kneipe, vor der der Mann mit dem Messer gestanden hatte, von dem der mysteriöse Ungar berichtet hatte. Wenn dem so war, dann musste sich der Tatort in unmittelbarer Nähe befinden. In den Zeitungen war stets von einem angrenzenden Club für Arbeiter die Rede gewesen, der mal als jüdisch, mal als sozialistisch bezeichnet wurde. Tatsächlich sah ich nur wenige Schritte von der Kneipe entfernt ein dreistöckiges Gebäude mit einem Schriftzug über dem Eingang an der Straße: »International Working Men’s Educational Club«.
Neben diesem Arbeiterclub führte ein schmaler Durchgang zu einem rückwärtigen Hof, in dem sich die Werkstatt des Wagenbauers Arthur Dutfield befand, wie auf dem hölzernen Tor zu lesen war, das die Passage von der Straße absperrte. Ich erinnerte mich, dass in den Zeitungen oft von Dutfield’s Yard die Rede gewesen war. Es konnte kein Zweifel bestehen: Meine Flucht vor den Verfolgern hatte mich direkt zu der Stelle geführt, an der Long Liz gestorben war. Hinter diesem zweiflügeligen Holztor, dem ich mich nun wie elektrisiert näherte, hatte der Mörder ihr die Kehle durchgeschnitten. An genau der Stelle, an der ich nun stand, hatte sie sich mit dem schnauzbärtigen Mann gestritten.
Als ich meinem Vater vorhin gesagt hatte, ich wolle mir noch ein wenig die Beine vertreten, hatte ich nicht bewusst vorgehabt, ins East End oder gar zur Berner Street zu gehen, und doch war es natürlich kein Zufall gewesen, dass mich meine Schritte die ganze Zeit nach Nordosten geführt hatten, als würde ich von einem Magneten angezogen. Als wäre ich nur ein Rad in einer Maschine, in der alles ineinandergriff und die einem bestimmten Zweck
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