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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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diente.
    Das Holztor war nicht verschlossen. Ich hörte ein jaulendes Geräusch, als ich es aufstieß, begriff aber erst verzögert, dass das Jaulen nicht von dem Tor stammte und dass es eher wie ein Wimmern oder Jammern klang. In dem Durchgang war es so finster, dass ich meine Hand kaum vor Augen sehen konnte. Zunächst war nur das leise Wehklagen zu hören, dann auch ein Schnaufen oder Schnorcheln, als hätte jemand Mühe, Luft zu bekommen. Dann wurde es plötzlich ganz still.
    »Hallo!«, rief ich und bemühte mich, nicht zu ängstlich zu klingen.
    Keine Antwort.
    »Ist da jemand?«, versuchte ich es erneut.
    »Verpiss dich!«, antwortete diesmal eine heisere Frauenstimme. Ein schmerzhaftes Ächzen verriet, dass das Fluchen der Frau weh getan hatte.
    Statt der Aufforderung Folge zu leisten, entzündete ich ein Streichholz und hielt es in die Höhe. Direkt neben dem verschlossenen Seiteneingang zum Arbeiterclub sah ich eine Frau auf dem Boden kauern, die Hände vor dem Gesicht, die Kleidung in Unordnung und teilweise zerrissen. Kurz bevor das Zündholz meine Finger ansengte, warf ich es zu Boden und sagte: »Haben Sie keine Angst!«
    »Ich hab keine Angst«, fauchte die Unbekannte. »Und jetzt zieh Leine!«
    Abermals entzündete ich ein Streichholz, und weil sie die Hände inzwischen heruntergenommen hatte, konnte ich das Gesicht der jungen Frau erkennen. Sie hatte eine blutige Nase und eine aufgeschlagene Unterlippe, ihre Wangen waren mit roten Striemen übersät.
    »Was ist passiert?«, rief ich und reichte ihr die Hand, um ihr aus dem Rinnstein zu helfen. »Wer hat das getan?«
    »Was schert dich das?«, schnauzte sie mich an, ließ sich aber dennoch aufhelfen. »Kümmer dich um deinen eigenen Kram!« Ihre heisere Stimme und das blasse Gesicht kamen mir bekannt vor, doch ich kam nicht darauf, wo ich die Frau schon einmal gesehen hatte. Als sie auf den Beinen stand, fuhr ihr ein Schmerz durch den Körper, und sie fasste sich an den Unterleib. Im selben Augenblick erlosch die Flamme.
    »Sie brauchen einen Arzt«, sagte ich und stützte sie.
    »Wer bist du?«, knurrte die Frau, doch es klang nun weniger abweisend. »Ein verdammter Samariter? Oder so ’n Spinner von der Heilsarmee?«
    »Weder noch«, antwortete ich und führte sie hinaus auf die Straße und zur nächsten Laterne. Da ich dem Gesicht der Unbekannten nun ganz nahe war, konnte ich ihre strenge Alkoholfahne riechen. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Manteltasche, tupfte ihr Gesicht ab und sagte: »Ihre Wunden sollten behandelt werden.«
    »Halb so wild«, meinte sie, nahm mir das Tuch aus der Hand und hielt es sich unter die blutende Nase. Mit der anderen Hand richtete sie ihren Ausschnitt, der zerrissen und blutbefleckt war und die Brüste nur noch leidlich bedeckte. »Was gibt’s da zu glotzen?«, keifte sie. »Willst du auch noch mal ran? Macht dich vielleicht das Blut an? Kostet aber extra.«
    Ich schüttelte entsetzt den Kopf und fragte: »Wollen Sie zur Polizei gehen?«
    Als Antwort lachte sie nur bitter auf. »Guter Witz!«, rief sie und tippte sich an die Stirn. »Eine Hure geht zur Polizei, um ’nen Freier anzuzeigen. Selten so gelacht!«
    »Was haben Sie dort gemacht?«, fragte ich und deutete in den Durchgang.
    »Na, dreimal darfste raten, Schätzchen!«, schnaubte sie.
    »Nein, Sie verstehen nicht«, sagte ich und schüttelte erneut den Kopf. »Ich meine, warum ausgerechnet dort? In Dutfield’s Yard? Wissen Sie nicht, was vor einigen Wochen in dieser Durchfahrt geschehen ist?«
    »Natürlich weiß ich das. Darum ging’s dem Scheißkerl doch«, murmelte sie und senkte den Blick. »Unbedingt hier wollte er’s mit mir treiben. Hat dafür sogar ’n paar Pence draufgelegt. Mit ’ner Hure in Dutfield’s Yard. Genau wie der verdammte Ripper. Hat den Kerl regelrecht brünstig gemacht. Wurde immer aufgeregter. So sehr, dass er plötzlich mit der Faust auf mich eingedroschen hat, während er auf mir lag. Kann von Glück sagen, dass er kein Messer dabeihatte, sonst wäre er wirklich zum Ripper geworden.«
    »Sie sollten Anzeige erstatten«, beharrte ich.
    »Und was würde mir das nützen?« Diesmal lachte sie nicht, sondern schüttelte leicht den Kopf, dass ihr die dunkelblonden Haare ins Gesicht fielen. »Ist halt so!« Sie gab mir das blutgetränkte Taschentuch zurück, und ihre buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie fragte: »Wie sieht’s aus, Schätzchen? Willste nun oder willste nicht?«
    Ich schaute sie nur fassungslos an.

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