Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Vater und zuckte mit den Schultern. »Es wäre nicht recht gewesen.«
»Sie reden von dieser Mary Tremain, oder?«, sagte Webster, der immer noch in der Tür stand. »Hab ich mir schon gedacht, als Sie vorhin den Namen Mary erwähnt haben. Tut mir leid, Sir, aber Sie kommen ein paar Tage zu spät. Ich hab das Foto ihrer Tochter Celia gegeben.«
»Sie kennen Celia?«, rief ich und wandte mich erstaunt zu ihm um.
Er grinste anzüglich, zuckte mit den Schultern und fragte: »War diese Mary auf dem Gemälde abgebildet?«
»Der Vorschlag kam von Webster«, antwortete mein Vater, wobei nicht klar war, ob er sich an mich oder den Wirt wandte. »Er meinte, man könnte das Foto abmalen lassen. In Farbe sähe es vermutlich noch schöner aus und wäre nicht so verfänglich wie eine Fotografie. Er hätte von einem Maler gehört, der für ein paar Flaschen Schnaps alles malte, was man wollte, auch schweinischen Kram. Falls mir der Sinn danach wäre. Der Maler wäre mal eine große Nummer in der Kunstakademie gewesen, aber jetzt wäre er froh, wenn er überhaupt irgendwelche Aufträge bekäme. Es hätte da irgendeinen Skandal gegeben.«
»Simeon Solomon«, sagte ich.
»Den Namen des Malers wusste Webster nicht«, antwortete Vater und ging die Stufen hinunter, bis er direkt vor dem Wirt stand. »Er kannte den Mann nur vom Hörensagen.«
»Jetzt versteh ich!«, rief Webster belustigt und grinste schief. »Es war ein Nacktbild! Schade, dass ich’s nie zu Gesicht bekommen habe. War schon eingepackt, als ich’s beim Maler abgeholt hab.«
»Gar nichts verstehen Sie!«, fauchte mein Vater, packte den Wirt an der Krawatte und stieß ihn wütend von sich. »Sie sind ein ebensolcher Widerling wie Ihr Vater!«
»Das sagt ja der Richtige!«, höhnte Webster und rappelte sich auf. »Steigt unschuldigen Schankweibern hinterher, aber mokiert sich darüber, wenn man ihn für einen Lüstling hält!« Er richtete seine Krawatte, baute sich vor meinem Vater auf und deutete zur Tür. »Und jetzt raus hier, Sir! Bevor ich mich vergesse!«
Vater wollte etwas erwidern, doch dann schüttelte er nur den Kopf und wandte sich resigniert dem Ausgang zu.
Während ich ihm nach draußen folgte, rief mir der Wirt nach: »Wenn Sie Celia sehen, Mr. Ingram, dann grüßen Sie sie von Rod Webster. Und falls sie eine Arbeit sucht: Ein magnetisches Schankmädchen kann ich immer gebrauchen.« Er lachte laut und knallte die Tür hinter mir zu.
Mein Vater war bereits auf der Straße und stand mit offenem Mantel und barhäuptig im Nebel, der inzwischen fast wie Watte fühlbar war. Der Drehorgelspieler war verschwunden, nur noch einzelne Fuhrwerke ratterten die High Street entlang, wenige Passanten waren auf dem Gehweg zu sehen. Sie wirkten im Nebel wie Phantome, die plötzlich auftauchten und sofort wieder verschwanden.
»Komm!«, sagte ich zu ihm und reichte ihm den Zylinder, den er im Hof der Schänke verloren hatte. »Die Kutsche bringt dich nach Hause.«
»Das Schlimme ist«, sagte mein Vater abwesend und ließ sich wie ein Kind den Hut aufsetzen. »Der junge Webster hat recht.«
Ich fasste ihn am Ärmel und führte ihn über die Straße, in Richtung Eisenbahnbrücke, wo der Kutscher immer noch auf uns wartete. Nur die beiden Außenlampen der Hotelkutsche waren aus der Entfernung zu sehen.
»Was ich nicht verstehe«, sagte ich und sah meinen Vater von der Seite an. »Warum hast du dieses zuckersüße Bild mit dem weiß gekleideten Hirtenmädchen und dem niedlichen Viehzeug in Auftrag gegeben? Die ganze Szenerie hat nicht das Geringste mit Mary zu tun.«
»Genau das war die Absicht«, antwortete er und gab dem Kutscher, der es sich auf der Rückbank gemütlich gemacht hatte, mit dem Gehstock ein Zeichen. »Erst habe ich Websters Vorschlag für dummes Zeug gehalten und abgelehnt. Ich wollte kein Gemälde von Mary, genauso wie ich das Foto nicht wollte. Doch dann wurde ich den Gedanken einfach nicht mehr los. Es war eine Schnapsidee, aber zugleich sehr verführerisch. Wie ich schon sagte, es war eine dumme Laune. Und deshalb bin ich einige Tage später, nachdem der Verkauf geregelt war, ins George Inn gegangen und habe Webster gebeten, sich darum zu kümmern. Natürlich ohne meinen Namen zu nennen. Ich habe ihm aufgetragen, dass das Bild möglichst unauffällig sein sollte. Nichts Dramatisches, nichts Realistisches, eine harmlose Pastorale eben.«
»Damit du es anschauen und in deinem Büro aufhängen konntest, ohne dich erklären zu müssen«,
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