Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
eng bebaute Dorset Street weniger düster gewesen wäre, würde kein Tageslicht je in die Wohnung fallen.
Heather klopfte zaghaft an die Tür, doch niemand öffnete. Ich versuchte es ebenfalls, diesmal etwas kräftiger, doch wieder kam keine Antwort.
»Er ist nicht da«, sagte Heather, deren heisere Stimme nur noch ein Wispern war.
»Hast du keinen Schlüssel?«, wunderte ich mich.
Sie schüttelte mutlos den Kopf und ließ sich an der Wand nach unten gleiten, bis sie mit dem Hinterteil im feuchten Rinnstein saß.
»Wo könnte er sein?«, fragte ich.
»Überall und nirgends«, antwortete sie erschöpft und hielt mir bittend die Hand entgegen. »Vielleicht im Britannia. Oder im Ten Bells.«
Ich gab ihr die Flasche, die sie auf dem Weg von der Berner Street beinahe ganz geleert hatte, und schaute nach Osten. In Richtung Miller’s Court und Britannia Pub, dessen Fenster beleuchtet war, wie man gerade noch durch den Nebel erkennen konnte. Die Christ Church und der Itchy Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren schon nicht mehr zu sehen.
Heather nahm einen großen Schluck, steckte die Flasche in die Manteltasche, spuckte den Alkohol jedoch kurz darauf wieder aus, würgte plötzlich und erbrach sich in den Rinnstein. Ich kniete mich neben sie und hielt ihren Kopf an der Stirn, während sie ein ums andere Mal krampfhaft zusammenzuckte, bis nur noch Galle aus ihrem Mund tropfte. Ich schalt mich einen Esel, weil ich in der Berner Street auf Heather gehört und sie nicht sofort ins nächste Krankenhaus gebracht hatte. Ihre Verletzungen waren offenbar schlimmer gewesen, als es den Anschein gehabt hatte, und das Erbrechen deutete auf eine schwere Gehirnerschütterung hin. Allerdings war sie in ihrem jetzigen Zustand so geschwächt, dass es mir unmöglich schien, sie ohne fremde Hilfe bis zum nächsten Krankenhaus zu bringen. Selbst wenn ich gewusst hätte, wo sich in Spitalfields das nächste Hospital befand.
Das Frauenasyl in der Hanbury Street fiel mir ein. Hatte Heather im Gespräch mit Ginger nicht erwähnt, dass sie eine Zeit lang in dem Heim gewohnt hatte? Sicherlich wussten die Schwestern der Heilsarmee, was in solchen Fällen zu tun und wo ärztliche Hilfe zu bekommen war. Aber selbst der Weg bis in die Hanbury Street war im Augenblick zu weit.
Miller’s Court!, schoss es mir durch den Kopf. Wenn es mir gelänge, Heather bis zu meinem Zimmer zu schaffen und dort aufs Bett zu legen, könnte ich in der Hanbury Street Hilfe holen. Simeon war inzwischen längst wieder im Arbeitshaus, wie ich von Gray erfahren hatte. Das verwaiste Zimmer war vermutlich nicht abgeschlossen, denn andernfalls hätte Simeon mir den Schlüssel zukommen lassen. Und vor allem: Miller’s Court war nur ein paar Schritte entfernt.
Ich nahm Heather, die inzwischen kaum noch bei Bewusstsein war, auf die Arme und wunderte mich, wie schwer sie war, obwohl sie auf den ersten Blick so schmächtig erschien. Vermutlich hatte das damit zu tun, dass sie sich nicht mehr an mir festhalten konnte und völlig leblos in meinen Armen lag. Mit Mühe schaffte ich es bis zum Durchgang und in den Hof, der glücklicherweise noch beleuchtet war. Wie ich richtig vermutet hatte, war die Tür zu meiner Kammer nicht versperrt, der Schlüssel steckte innen im Schloss. Kurz bevor ich einen Krampf in den Unterarmen bekam, legte ich Heather auf das Bett. »Die Matratze ist wie neu«, hatte mein Hauptmieter Edmund gesagt. Das war nicht einmal eine Woche her, doch mir kam es vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.
Im Zimmer war es erstaunlich warm. Offenbar brannte nebenan der Kamin, denn die Steinmauer strahlte eine wohltuende Wärme ab. Genau wie Edmund es gesagt hatte. Ich zog Heather den Mantel und das nasse Oberkleid aus und bedeckte sie mit der Wolldecke, die erbärmlich nach Alkohol und Schweiß stank. Auf dem Boden fand ich einen Kerzenstummel, den ich mit einem Streichholz entzündete und mit Wachs auf dem Tisch befestigte. Damit Heather etwas sehen konnte, falls sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, bevor ich zurückgekehrt war. Was ich allerdings nicht annahm.
Schließlich zog ich meinen nach Erbrochenem stinkenden Mantel wieder an, verließ die Kammer und machte mich auf den Weg zur Hanbury Street.
Doch ich kam nicht weit. Im Durchgang zur Dorset Street traten mir zwei Gestalten entgegen, der eine größer als der andere, der Letztere mit einem Bowler auf dem Kopf, der Erste mit einem Vollbart im Gesicht. Mehr war in der Dunkelheit nicht von
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