Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
konstatierte ich.
»Ja, so ist es.« Er hob die Achseln und bestieg die Kutsche. »Komm jetzt, Rupert, es ist spät geworden«, sagte er und reichte mir die Hand.
Ich blieb auf dem Gehweg stehen und schüttelte den Kopf. »Fahr du nur nach Hause, Vater! Ich bleibe noch und vertrete mir ein wenig die Beine.«
»Bei dem Nebel?«
»Nach den ganzen Ereignissen heute schwirrt mir ein wenig der Kopf. Es ist alles so verworren, und es gibt so viel, über das ich nachdenken muss.«
»Das kannst du auch zu Hause tun.«
»Ich werde später nach Hause kommen«, sagte ich. »Aber ich werde nicht mehr lange im Hatchett’s bleiben. Damit hat es ein Ende. Das weißt du, oder?«
»Willst du wieder im Crown wohnen?«, antwortete er überrascht und beugte sich aus der Kutsche. »William wird zwar nicht erfreut darüber sein, aber ich werde das schon mit ihm regeln. Wir können alles so belassen, wie es früher war.«
»Nein«, sagte ich kopfschüttelnd. »Nichts soll so sein wie früher!«
Er nickte und fragte: »Was hast du vor? Wo willst du hin?«
»Genau darüber muss ich mir Gedanken machen«, antwortete ich und klopfte dem Pferd auf die Kruppe. »Gute Nacht, Vater!«
Kurz darauf schlugen die Glocken von St. Saviour zur Mitternacht.
8
Während die Kutsche wendete und nach kurzer Zeit im dichten Nebel verschwand, kam mir plötzlich eine Frage in den Sinn, die ich meinem Vater zu stellen vergessen hatte. Eine Frage, die ich mir selbst zu stellen versagt hatte: Was war mit unserer Mutter? Hatte sie von der Affäre gewusst? Auch von dem illegitimen Bastard, der einen Skandal hätte auslösen können? Und wenn ja, wie hatte sie auf das Liebesabenteuer ihres Mannes reagiert?
Doch so seltsam es mir auch vorkam, die Antworten auf diese Fragen waren mir eigentlich nicht so wichtig. Meine Mutter spielte, so herzlos das auch klingen mochte, in all meinen Überlegungen kaum eine Rolle. Das Schicksal der Mary Tremain, eines mir gänzlich unbekannten Schankmädchens, berührte mich mehr als das Los meiner eigenen Mutter, die von meinem Vater hintergangen worden war. Während ich in Richtung London Bridge ging und man in unmittelbarer Nähe des Flusses kaum noch die Hand vor Augen erkennen konnte, versuchte ich mir zu erklären, warum ich in Bezug auf meine Mutter so gleichgültig war.
Wenn ich an Rhoda Ingram dachte, so sah ich immer ein seltsam konturloses und schemenhaftes Wesen vor mir. Wie ein verwaschenes Aquarell. Das lag sicherlich auch daran, dass sie vor beinahe zehn Jahren an einer Lungenentzündung gestorben und meine Erinnerung im Laufe der Zeit zunehmend verblasst war. Doch es hatte vor allem damit zu tun, dass ich sie in meiner Kindheit nie wirklich als liebende und sorgende Mutter erlebt hatte. Während mein Vater das Geschäftliche regelte und mit strenger Hand das Unternehmen führte, verwaltete meine Mutter ebenso akribisch die Familie, befehligte das Personal und delegierte die entsprechenden Aufgaben. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter waren in gewisser Weise immer nur die Verwalter äußerer Abläufe gewesen. Sie hatten dafür gesorgt, dass die Familie und die Firma reibungslos funktionierten. An unser Kindermädchen Susan, an die Klavierlehrerin Mrs. Appleby, an die alte Köchin Brenda, ja sogar an den stocksteifen Portier Bellamy hatte ich innigere und herzlichere Erinnerungen als an meine Eltern.
Ich hatte inzwischen die Themse überquert, doch statt mich nach links zu wenden, um am Nordufer in Richtung Westminster zu gehen, schlug ich aus keinem besonderen Grund die entgegengesetzte Richtung ein. Das Hatchett’s erschien mir im Moment als Ziel nicht besonders erstrebenswert. Ich ging stattdessen am Fischmarkt von Billingsgate vorbei zum Tower Hill und sah das eingerüstete und halbfertige Skelett der neuen Tower Bridge aus dem Nebel ragen. Direkt am Wasser führte ein schmaler Pfad am Tower vorbei bis zu den Docks, die mich immer an ein riesiges Labyrinth erinnerten. Es handelte sich um ein schier endloses Gewimmel aus Lagerhäusern, Kaimauern, ins Wasser ragenden Piers, Lastkränen, Hafenbecken, Wasserstraßen und Zugbrücken, das auf mich wie eine Stadt in der Stadt wirkte.
Während ich ziellos und zunehmend orientierungslos durch die Docks von St. Katherine schlenderte und dabei lediglich darauf achtete, nicht versehentlich in ein Wasserbecken zu stürzen oder gegen einen in der Dunkelheit kaum zu erkennenden Poller zu stoßen, musste ich daran denken, wie behütet und zugleich lieblos
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