Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
meine Kindheit verlaufen war. Jedenfalls was meine Eltern anging. Entsprechend distanziert war mein Verhältnis zu ihnen immer geblieben. Als unser Kindermädchen Susan seinerzeit den Dienst bei der Familie Ingram quittiert hatte, um zu heiraten und fortan eigene Kinder aufzuziehen, hatte ich Rotz und Wasser geheult und mich wie ein Ertrinkender an ihr Kleid geklammert, um sie nicht fortzulassen. Doch als meine Mutter infolge einer Diphtherie mit plötzlich auftretender Lungenentzündung auf dem Sterbebett lag und viel zu früh Abschied von ihrer Familie nehmen musste, hatte ich Mühe, mir eine Träne aus dem Augenwinkel zu quetschen. Ich trauerte um meine Mutter, weil man es von mir als gehorsamem Sohn erwartete, aber ich spürte den Schmerz und Verlust nur gedämpft. Zugleich machte ich mir deshalb böse Vorwürfe, weil ich mich für undankbar hielt. Wenn ich an den Tod meiner Mutter dachte, hatte mich immer ein schlechtes Gewissen geplagt, weil ich so wenig für sie empfunden hatte. Und immer noch empfand.
Die St. Katherine Docks lagen inzwischen hinter mir und die London Docks vor mir, und dazwischen schlängelte sich die Nightingale Lane zwischen den Lagerhäusern hindurch. Rechts führte ein Kanal vom Eingang der Docks bis zur Themse, links ging eine Bahntrasse von den Lagerhäusern für Wolle, Tabak und Tee bis zu den Eisenbahndepots an der Royal Mint Street. Im Schatten des Bahndammes befand sich eine ziemlich schäbige Kneipe, die dem Anschein und Namen nach von Chinesen geführt wurde. Sie nannte sich Lotus Pub. Vor dem Eingang lungerten einige Seemänner und Hafenarbeiter herum, die mich neugierig beäugten. Obwohl ich mich schon oft in dieser Gegend herumgetrieben und viele Gasthäuser und Opiumkeller besucht hatte, war mir dieser Pub unbekannt. Er machte keinen besonders einladenden Eindruck auf mich. Zur jetzigen Stunde und in meiner derzeitigen Aufmachung schien es mir nicht ratsam, die Schänke zu betreten.
Ich zog den Zylinder tief ins Gesicht, schlug den Pelzkragen meines Mantels hoch, passierte den Lotus Pub auf der gegenüberliegenden Straßenseite und ging auf der Nightingale Lane nach Norden, immer den Bahndamm entlang. Als ich die Stelle erreicht hatte, wo sich die Trasse vor dem Westeingang der London Docks gabelte und sich die Gasse zu einem kleinen Verladeplatz öffnete, bemerkte ich zwei Männer hinter mir. Sie waren mir offenbar vom Lotus Pub gefolgt und blieben ebenfalls stehen, als ich auf dem Platz anhielt und mir unter einer Laterne eine Zigarette anzündete. Der offene und halbwegs beleuchtete Platz bot den Männern nicht die Deckung, die sie offenbar zu finden hofften, daher steckten sie die Köpfe zusammen, als wollten sie nur einen kleinen Plausch halten. Während ich das Streichholz wegwarf und das Zigarettenetui wieder in meiner Brusttasche verstaute, schaute ich mich scheinbar beiläufig um, während ich fieberhaft nach einem Fluchtweg suchte. Der Weg zurück war mir durch die Männer versperrt, der Eingang zu den ringsum bebauten Docks war ebenfalls nicht zu empfehlen, da ich dort wie in einer Falle saß. Blieben nur die beiden Gassen, die links und rechts vom Ladeplatz abgingen. Die eine führte nach Westen in Richtung Tower Hill und war so schmal und dunkel, dass sie wie eine Einladung für jeden Räuber wirken musste. Die andere Straße führte rechter Hand unter dem Bahndamm hindurch und war von meinem jetzigen Standort, nicht nur wegen des Nebels, kaum einzusehen. Dennoch entschied ich mich aus Mangel an Alternativen für diese letzte Option. Langsam trottete ich zur dunklen Unterführung und war nicht wirklich überrascht, dass sich die beiden Männer ebenfalls wieder in Bewegung setzten. Als ich unter der Eisenbahnbrücke ankam und für kurze Zeit aus dem Blickfeld meiner Verfolger verschwunden war, rannte ich los.
Erst als ich die winzige und gänzlich unbeleuchtete Gasse sah, die vermutlich nur als Zufahrt für Lastwagen diente und in einem Halbbogen zurück zu den Docks führte, erkannte ich, dass ich mich für die falsche Seite entschieden hatte. Hinter mir hörte ich das rasche Klacken der Stiefel auf dem Pflaster, vor mir sah ich nichts als Nebel und die Schatten der Lagerhäuser. Keine Menschen auf der Straße, keine Lichter hinter den Fenstern, keine Gasthäuser, in die ich mich hätte flüchten können. Ich überlegte bereits, ob ich mich den beiden Kerlen stellen und ihnen freiwillig meine Geldbörse geben sollte, um auf diese Weise möglichst glimpflich
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