Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
entlassen worden, doch die von Maureen und Celia angebotene Hilfe hatte sie rundweg abgelehnt. Wenn Celia sich weiterhin von der Schlangenlady ausnutzen lassen wolle, könne sie das gern machen, aber sie, Heather, werde Maureen nicht in die Falle tappen und lieber zu Michael in die Dorset Street zurückkehren. Der sei zwar ein Grobian, aber immerhin kümmere er sich um sie. Und das allein sei entscheidend!
Dass Michael nicht mehr lebte und auf welche Weise er gestorben war, konnte Heather nicht wissen, da sie in jener Nacht die ganze Zeit ohnmächtig auf dem Bett gelegen hatte. Auf Celias flehentliche Bitte, sich doch einen anderen Freund und eine andere Behausung zu suchen, lachte Heather nur und rief: »Zerbrich dir meinetwegen nicht den Kopf, Kindchen! Unkraut vergeht nicht.«
Anschließend hatte Celia nichts mehr von ihr gehört. Auch Rupert, der sich in den Kneipen von Spitalfields und bei Ginger im Miller’s Court nach Heather erkundigt hatte, brachte lediglich im Erfahrung, dass sie eine Zeit lang vergeblich nach Michael gesucht habe, dann aber nicht mehr in der Dorset Street aufgetaucht sei. Einmal habe Ginger sie noch in Begleitung eines Unbekannten im Ten Bells gesehen, doch ob das was zu bedeuten habe, könne sie nicht sagen. Sowohl Michael als auch Heather blieben unauffindbar. Da auch Edmund plötzlich verschwunden sei, wie Ginger achselzuckend berichtete, liege die Vermutung nahe, dass die drei gemeinsam das Weite gesucht hätten. Wieso und wohin, das wusste sie nicht. Es interessierte auch niemanden. Im East End verschwand ständig jemand, das war nun einmal der Lauf der Dinge.
Als Celia und Maureen nach dem Tee in der Abenddämmerung das Cottage verließen und in gelöster Stimmung durch den Victoria Park nach Süden gingen, kam ihnen auf einer schmalen Kanalbrücke eine bärtige Gestalt mit einer großen Mappe unter dem Arm entgegen, bei deren Anblick Celia einen leisen Schrei ausstieß. Der Mann schaute kurz auf, grinste schief, tippte sich an die kahle Stirn und schlurfte weiter. Selbst auf die Entfernung war sein durchdringender Schweiß- und Alkoholgestank zu riechen.
»Kennst du den Kerl?«, wunderte sich Maureen und rümpfte angewidert die Nase. »Wie der geglotzt hat!«
Celia zuckte mit den Schultern und dachte an das düstere Gemälde im Wintergarten des Volkspalastes, das diesem seltsamen Mann Tränen der Rührung in die Raubvogelaugen getrieben hatte.
Simeon Solomon wohnte, von wenigen kurzen Phasen abgesehen, bis zu seinem Lebensende im Arbeitshaus von St. Giles, wo er weiterhin unzählige Kreidezeichnungen, Bleistiftskizzen und Aquarelle auf billiges Papier bannte. Keines dieser späten Kunstwerke wurde zu Lebzeiten des Malers in irgendeiner Galerie oder gar einem Museum ausgestellt, obwohl es Simeon gelang, immer wieder Bilder zu verkaufen. Nicht nur die frivolen Zeichnungen, die bei den Wärtern in St. Giles so beliebt waren, oder die banalen Postkartenansichten der Londoner Sehenswürdigkeiten, die er in den Kneipen anbot. Neben Rupert, der ihm wegen seines unsicheren Einkommens nur noch selten Werke zu einem angemessenen Preis abnehmen konnte, gab es zwei weitere heimliche Unterstützer. Dabei handelte es sich um den jungen Dichter Lionel Johnson und den Kunstsammler Herbert Horne, die beide Simeons Kunst außerordentlich schätzten, ohne aber für den in Ungnade geratenen Künstler in der Öffentlichkeit eintreten zu wollen. Simeons unmoralischer Lebenswandel – der außer in seiner Homosexualität in seiner zunehmenden Trunksucht und emotionalen Zügellosigkeit zum Ausdruck kam – machte es den wenigen Freunden schwer, sich offen für ihn starkzumachen. Der einst bewunderte Simeon Solomon blieb zeit seines Lebens das verlorene Genie, als das ihn der Dichter Algernon Swinburne bezeichnet hatte: »Ein großer Künstler, aber ein schwacher Mensch.« Er starb am 14. August 1905 im Arbeitshaus an der Endell Street an den Folgen seines Alkoholismus.
Einige Tage nach seinem Tod erschien in den Illustrated London News ein ungewöhnlich langer Nachruf, der Simeons beachtliche Kunst und sein allzu trauriges Leben in mitfühlenden Worten nachzeichnete und zu der treffenden Schlussfolgerung kam, Solomon habe sein Leben der Kunst gewidmet, ohne die Kunst des Lebens zu beherrschen. Unterzeichnet war der Nachruf mit den Initialen R. I.
Das Ölgemälde »Liebe im Herbst«, das Celia im People’s Palace so fasziniert und verwirrt hatte, wurde noch einige Male zu Lebzeiten des
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