Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
angenommen. Eine Anstellung als Haushälterin oder auch als Dienstmädchen in seinem Cottage erschien ihr mehr als erstrebenswert. Wie die Erfüllung eines Traums. Doch es wäre aus den falschen Gründen gewesen und hätte zu nichts Gutem geführt. Celia wollte kein Mitleid und kein Almosen, sie wollte keine Anstellung, weil Rupert Ingram sich zu irgendetwas verpflichtet fühlte oder ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Es war, wie sie gesagt hatte: Er war ihr nichts schuldig. Der Rattenbiss, die unselige Affäre ihrer Eltern, der grausige Vorfall im Miller’s Court. All das spielte keine Rolle mehr, durfte keine Rolle spielen. »Schluss damit!«, hatte Rupert in jener schrecklichen Nacht aus tiefstem Herzen geschrien und damit Celia aus der Seele gesprochen.
Deshalb blieb sie als Dienstmädchen bei Maureen und zog mit ihr in das Gästehaus des People’s Palace. Rupert gegenüber hatte Maureen ein wenig geflunkert, denn die Wohnung war alles andere als geräumig, und von einem freien Blick auf den Kanal konnte ebenfalls keine Rede sein. Außerdem war das Haus noch nicht ganz fertiggestellt und würde für längere Zeit eine Baustelle bleiben. Und trotzdem kam Celia die winzige Wohnung, in der sie in einem schmalen Alkoven neben dem Flur schlafen musste, beinahe so prächtig vor wie die Queen’s Hall im nahe gelegenen Volkspalast, denn sie bedeutete einen Neuanfang. Einen Schlussstrich unter all den Schmutz und Dreck, der sich in Celias Kopf angesammelt hatte und sie zu ersticken drohte.
Sorge bereitete Celia lediglich der Gedanke, Rupert mit ihren harschen Worten derart verärgert zu haben, dass er fortan den Umgang mit ihr mied. Doch diese Sorge war unbegründet, wie sich schon bald herausstellen sollte. Bereits am Tag nach Ruperts morgendlichem Erscheinen in der White Horse Lane erhielten Maureen und Celia eine Einladung zum Tee für den kommenden Sonntag nach South Hackney. Der Botenjunge, der die Einladung überbrachte, war ein zersauster Lausejunge mit einer dunkelblauen Verfärbung im Gesicht, der mit ernster Miene und breitem Cockney-Dialekt ausrichtete, ein »Nein danke!« werde sein Herr diesmal nicht akzeptieren.
Als die beiden Frauen an diesem ersten Sonntag im November vor der Gartenpforte des kleinen Häuschens in der Victoria Park Road standen, staunten sie nicht schlecht. Das windschiefe und verwitterte Cottage erinnerte an die Hexenhäuschen aus den Märchen, und Celia musste erschrocken lachen, als sie die Inschrift auf dem nagelneuen Holzschild las, das Rupert über dem Eingang hatte anbringen lassen: »The Refuge«.
Während sie in dem noch karg und unwirtlich eingerichteten Wohnzimmer Tee und Salzgebäck zu sich nahmen und dabei von dem blaugesichtigen Cockneyjungen bedient wurden, berichtete Rupert in überschwänglichen Worten von seinen noch sehr vagen Zukunftsplänen. Offenbar wollte er sein Glück als Schriftsteller, Kritiker oder Reporter versuchen. So genau schien er das selbst noch nicht zu wissen, denn mal sprach er von Romanen und Theaterstücken, die er zu schreiben gedachte, dann wieder redete er von Zeitschriften oder Zeitungen, bei denen er vorstellig werden wollte. Am kommenden Dienstag habe er ein Vorstellungsgespräch bei den Illustrated London News , verkündete er stolz. Dass der Herausgeber des Magazins ein Namensvetter von ihm sei, könne bestimmt kein schlechtes Omen sein.
Für Celia war dieser Nachmittag auch deshalb so angenehm, weil die Vorgänge der letzten Wochen mit keinem einzigen Wort zur Sprache kamen. Als hätten sie verabredet, alles Hässliche und Böse aus »The Refuge« zu verbannen. Sie redeten über die Zukunft und malten sie bunter und strahlender aus, als sie vermutlich sein würde. Maureen beschrieb ihre Auftritte im People’s Palace, die sie übrigens unter ihrem tatsächlichen Namen absolvierte, als mögliches Sprungbrett für eine Karriere auch auf anderen Bühnen, und Rupert versprach, an sie zu denken, wenn er denn tatsächlich sein erstes Theaterstück geschrieben und verkauft habe. Halb scherzhaft wiederholte er auch das Angebot an Celia, seinen Haushalt zu führen, denn der gute Gray – damit meinte er den merkwürdigen Hausdiener – sei zwar ein braver Kerl, aber als Koch eine Niete, und eine Köchin könne Rupert sich im Moment noch nicht leisten.
Nur als die Rede auf Heather kam, verfinsterte sich die Stimmung kurzzeitig. Zwar war sie bereits nach zwei Tagen auf eigenen Wunsch und halbwegs genesen aus dem London Hospital
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