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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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seinem Einzug, besuchte ihn sein Vater zum ersten Mal in The Refuge. Als Geschenk brachte er ein großes, flaches Paket mit, das sich beim Auspacken als das Gemälde der Frau in Weiß entpuppte. Rupert war zunächst irritiert und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Dann entschied er sich für die unverblümte Wahrheit und sagte, dass er das Bild fürchterlich und geschmacklos finde und es sich niemals in sein Cottage hängen werde.
    »Tu damit, was du willst«, antwortete sein Vater enttäuscht und rieb sich ratlos die Hände, als wäre ihm kalt. »Du kennst den Maler, hast du gesagt, vielleicht will er es ja wiederhaben.«
    »Kaum anzunehmen«, murmelte Rupert schmunzelnd.
    »Oder du schenkst es dem Mädchen. Marys Tochter.«
    »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte Rupert nachdenklich und betrachtete das Hirtenmädchen, das Celia so verblüffend ähnlich sah. »Ihr Name ist übrigens immer noch Celia.«
    »Celia«, wiederholte sein Vater. »Ich würde sie gern kennenlernen, wenn sich das einrichten ließe. Irgendwann einmal.« Nach einem Räuspern setzte er hinzu: »Natürlich nur, wenn sie das möchte.«
    » Falls sie das möchte«, verbesserte Rupert. »Was ich aber bezweifle. Celia wünscht sich nichts sehnlicher, als das Vergangene hinter sich zu lassen.«
    »Natürlich, mein Junge«, sagte sein Vater und fügte, als er Ruperts finsteren Blick sah, schnell hinzu: »Rupert.«
    Nur zwei Tage später wurde Ruperts ruhiges Dasein in seinem neuen Schlupfwinkel dramatisch gestört. Die hässliche Wirklichkeit drang in The Refuge ein, und alles, was vorher so friedlich und idyllisch schien, geriet schlagartig durcheinander. In der Times , die ihm Gray nach dem Frühstück mit verkniffener Miene gereicht hatte, stieß er bei der Morgenlektüre vor dem Kamin auf folgende Schlagzeile: »Ein weiterer Whitechapel-Mord«.
    »Was weißt du darüber?«, fragte Rupert den Jungen und schlug hastig die Zeitung an der entsprechenden Stelle auf.
    »Der Ripper hat wieder zugeschlagen«, antwortete Gray und hob die Achseln. »Beim Zeitungsstand haben alle drüber gesprochen. Zerfetzt soll er sie haben. Noch schlimmer als beim letzten Mal. Ein verdammtes Blutbad, sagen die Leute.«
    Rupert starrte fassungslos auf den Artikel und las:
    »Während der frühen Stunden des gestrigen Morgens ereignete sich ein weiterer abscheulicher und teuflischer Mord in Spitalfields. Die Art der Verstümmelungen lässt wenig Zweifel daran, dass der Mörder die gleiche Person ist, die auch die vorherigen, der Öffentlichkeit bekannten Morde begangen hat. Der Tatort dieses letzten Verbrechens ist in der Dorset Street Nr. 26 in Spitalfields. Obwohl das Opfer, dessen Name Mary Jane Kelly ist, unter der oben genannten Adresse lebte, befindet sich der Eingang zu dem Zimmer, das sie bewohnte, in einem schmalen Hof, in dem es ein halbes Dutzend Wohnungen gibt und der unter dem Namen Miller’s Court bekannt ist. Das Zimmer des Opfers hatte die Nummer 13.«
    »Miller’s Court!«, rief Rupert entsetzt und versuchte zu begreifen, was er gerade gelesen hatte.
    »Ganz in der Nähe vom Ten Bells«, sagte Gray. »’ne finstere Gegend.«
    »Oh mein Gott!«, murmelte Rupert, denn er erinnerte sich in diesem Moment, wer in Miller’s Court Nr. 13 wohnte und auf den Namen Mary Jane hörte. Edmund hatte sie einmal bei diesem Namen genannt: Ginger!
    Obwohl ihm beinahe das Frühstück hochkam, konnte Rupert nicht aufhören, die Einzelheiten der Gräueltat zu lesen. So erfuhr er aus dem Artikel, dass Ginger am Freitagmorgen tot auf dem Bett in ihrem Zimmer gefunden worden war. Ihr nackter Körper war fürchterlich zugerichtet und mit einem Messer zerstückelt. Der Mörder hatte ihr nicht nur die Kehle durchgeschnitten, sondern auch die Brüste sowie die Ohren und die Nase abgetrennt und anschließend im Raum verteilt. Außerdem war ihr gesamter Unterleib aufgerissen, und der Ripper hatte etliche Organe entfernt und um den Körper herum drapiert.
    »Die Gesichtszüge der armen Kreatur waren nicht mehr wiederzuerkennen«, hieß es in dem Bericht. »Ein fürchterlicher und widerlicher Anblick, wie man sich ihn kaum vorstellen kann.«
    Um sich nicht zu übergeben, sprang Rupert auf, knüllte die Zeitung zusammen und warf sie ins Kaminfeuer.
    »Los!«, rief er Gray zu. »Wir gehen!«
    »Wohin, Boss?«
    »Miller’s Court!«
    Auf dem Weg nach Spitalfields schossen Rupert die Gedanken wie Tennisbälle durch den Kopf, immer sinnlos hin und her, bis sie

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