Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
lassen. Das allzu süßlich geratene Bildnis eines Hirtenmädchens war von uns Ingram-Söhnen »Die Frau in Weiß« getauft worden – nach einem Lieblingsroman unserer Mutter und weil die weiß gekleidete junge Frau, die darauf verträumt zwischen Ziegen und Schafen auf einer Weide hockte, an die berühmte Titelfigur des Romans erinnerte. Ich konnte dieses sentimentale und abgeschmackte Gemälde niemals anschauen, ohne mich innerlich vor Widerwillen zu winden. Und ich hatte nie herausgefunden, was unseren Vater veranlasst hatte, es zu kaufen oder in Auftrag zu geben. Er behauptete, das Bild erinnere ihn an unsere Mutter, doch von einer auch nur angedeuteten Ähnlichkeit konnte überhaupt keine Rede sein.
»Ihr habt also gesprochen, das ist gut.« Mein Vater schob sich die Brille auf die Nasenwurzel und starrte in den schwarzen Sprachtrichter, als schaute er in den Schlund eines Raubtiers. »Und worüber?«
»Worüber was? « Ich nahm eine Zigarette aus dem silbernen Etui, das ich aus der Innentasche meines Gehrocks geholt hatte.
»Worüber habt ihr gesprochen?«
»Du meinst, Mr. Barclay und ich?«, fragte ich verwirrt, zündete mir die Zigarette mit einem Streichholz an und sagte dann: »Über Bier.«
»Das ist gut«, wiederholte er und lächelte seltsam. »Bier ist gut.« Er wirkte beinahe erleichtert oder überrascht.
»Ich dachte, du magst kein Bier«, wunderte ich mich und stieß eine Rauchwolke aus. »Du bekommst davon Sodbrennen.«
»Das stimmt allerdings, fürchterliches Gebräu«, brummte er und schaute mich verwirrt an. »Aber dass ihr darüber gesprochen habt, das finde ich gut. Wurde ja auch Zeit. Du hast also keine Einwände?«
»Gegen Bier?« Ich verstand nicht recht. Was in Gesprächen mit meinem Vater allerdings sehr häufig vorkam. So klar und bestimmt Harvey Ingram als Geschäftsmann und Hotelier auftreten konnte, so wirr und unverständlich verhielt er sich oft als Vater und Familienhaupt.
»Warum sollte ich etwas gegen Bier haben?«, fragte ich. »Ich bin doch kein Snob.«
»Nein, natürlich nicht. Das ist wunderbar! So schlimm ist Southwark auch gar nicht.« Er klopfte sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel und nickte zufrieden. »Das wäre also geklärt.«
»Southwark?«, wunderte ich mich. »Was ist damit?«
»Ich meine die Brauerei. Barclay und Perkins. Du weißt schon.«
Ich wusste nicht, nickte aber dennoch.
»Sehr gut, jawohl!«, rief er erleichtert. »Das freut mich ungemein, dass ihr euch einig geworden seid. William hat auch nichts dagegen einzuwenden.« Dann setzte er plötzlich eine gequälte Miene auf, deutete auf die Zigarette in meiner Hand und fragte: »Musst du immer dieses grässliche Kraut rauchen? Ich hab dir doch zu deinem Geburtstag eine Kiste Habanos geschenkt. Diese stinkenden ägyptischen Papierstängel sind was für Soldaten und Sozialisten.«
»Mir schmecken sie.« Ich wartete auf Weiteres, doch er schien meine Anwesenheit bereits wieder vergessen zu haben und beugte sich über irgendwelche Papiere auf seinem Schreibtisch. Es sah aus wie das Londoner Telefonbuch. Ich wandte mich zur Tür und fragte: »Gibt es sonst noch was? Ich bin müde und würde mich gern hinlegen.«
Mein Vater fuhr aus seinen Gedanken hoch, schaute verwirrt drein und hob abwehrend die Hände. »Wir reden morgen weiter. Ruh dich erst einmal aus, mein Junge.« Er machte ein Gesicht, als wäre er sehr zufrieden mit sich. »Wir reden morgen.«
Stirnrunzelnd verließ ich das Büro und schloss die Tür. Von draußen hörte ich die laute Stimme meines Vaters: »Ja, hallo! Geben Sie mir bitte Mayfair 369!«
»Einig geworden«, gingen mir seine Worte durch den Kopf. Was hatte er bloß damit gemeint? Und wogegen hatte William nichts einzuwenden?
2
Obwohl nur einen Steinwurf vom Hatchett’s Hotel entfernt, unterschied sich das Crown Hotel in der Dover Street doch merklich vom Etablissement an der Piccadilly. Während sich das Hatchett’s über die Jahrhunderte aus einer alten Postkutschenstation und Schänke zu einer feinen Adresse entwickelt hatte und gerade nach der Renovierung beinahe aufdringlich als luxuriöses Hotel mit großem Empfangsbereich erscheinen wollte, war das Crown ein etwas fadenscheinig umgebautes Wohnhaus, das von außen mit seiner dunklen Backsteinfassade recht unscheinbar und im Inneren allzu unübersichtlich wirkte. Zwar gab es auch hier eine Rezeption und einen Salon samt Speisesaal, doch das Hotel machte einen improvisierten und unfertigen Eindruck.
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