Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
schlechte Laune. Die Donnerstage in Bury Hill waren mir ein Graus, und obwohl Meredith nichts Besonderes getan hatte, um meinen Unwillen zu erregen, machte ich sie dennoch für meine üble Stimmung verantwortlich. Einfach weil es sie gab und ich gezwungen war, mich mit ihr zu befassen. Das war höchst ungerecht, dessen war ich mir durchaus bewusst, aber ich konnte es nicht ändern. Manchmal wünschte ich mir fast, es wäre bereits Dezember und ich mit Meredith verheiratet, und sei es nur, um nicht länger vorgeben zu müssen, mich für sie zu interessieren. Als Mann und Frau würden wir zwar unter einem Dach leben, uns aber dennoch gegenseitig aus dem Weg gehen können – zumindest hatten es meine Eltern in dieser Disziplin zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Als Verlobten wurde uns dieses eheliche Vorrecht jedoch nicht zugebilligt. Noch galt es, den Schein zu wahren und das holde und glückselige Paar zu mimen, obwohl allen bewusst war, dass die Ehe nur zustande kam, weil unsere Eltern es aus geschäftlichen Gründen für opportun befunden hatten.
Meredith war ein nettes und durchaus hübsches Mädchen, und ganz sicher war sie nicht dümmer als andere Backfische ihres Alters. Womöglich war sie mir sogar in echter Zuneigung zugetan, aber leider war sie genauso langweilig und ermüdend wie die obligatorische Partie Krocket, die ich bei jedem Besuch spielen musste. Mitunter wünschte ich mir, wenn ich mich auf den Weg zu dem herrschaftlichen Anwesen in Dorking machte, dass es den ganzen Tag wie aus Kübeln regnen möge. Auf diese Weise würde ich wenigstens um das vermaledeite Rasenspiel herumkommen.
An diesem Donnerstag hatte es mich besonders hart getroffen. Nicht nur hatte ich Meredith, um ihr eine Freude zu machen, wie üblich beim Krocket gewinnen lassen, zu allem Überfluss war ich nach dem Lunch auch noch von ihrem Onkel, Robert Barclay, in die Bibliothek gebeten worden, um bei einer Zigarre und einem Glas Sherry über Southwarker Bier zu sprechen. Ich hatte durchaus nichts gegen Bier einzuwenden. Anders als manche meiner Freunde war ich mir keineswegs zu fein für Porter, Stout und Ale, und viele der zahlreichen Sorten, die von Barclay, Perkins & Co. in Southwark gebraut wurden, schmeckten mir durchaus. Allerdings bevorzugte ich es, Bier zu trinken und nicht darüber zu reden . Mich interessierte es nicht, ob Biere ober- oder untergärig waren, wie viel Hopfen und Malz sie enthielten, wie ihr Export nach Russland verlief und ob das Flaschenbier dem Fassbier vorzuziehen sei.
Mr. Barclay war ungemein stolz auf seine Brauerei, und das konnte ich ihm nicht einmal verdenken, schließlich gehörte sie zu den größten und umsatzstärksten in England, wenn nicht der ganzen Welt. Doch die ständigen Lobhudeleien, die von mir erwartet wurden, ermüdeten mich beinahe ebenso wie das stümperhafte Krockieren, das ich mir angewöhnt hatte, um Meredith den Spaß am Gewinnen nicht zu nehmen. Die Familie Barclay, obwohl seit Generationen eine der reichsten im Lande, schien der ständigen Bestätigung zu bedürfen und sich nicht darum zu scheren, ob das Lob von Herzen kam. Und vielleicht bestand der eigentliche Grund für meine schlechte Laune in der Tatsache, dass ich diese Schmierenkomödie immer wieder mitspielte und den Barclays wie ein Speichellecker nach dem Mund redete. Und alles nur, um meinem Vater einen Gefallen zu tun. Beziehungsweise, um ihm zu gehorchen.
Was war ich doch für ein erbärmlicher Feigling! Dieser quälende Gedanke ging mir zum wiederholten Mal durch den Kopf, als der Zug aus Dorking in den Bahnhof Waterloo einfuhr. Ich verließ eilenden Schrittes die Gleise und bestieg auf dem Vorplatz eine Kutsche. Dabei stieß ich ein ärmlich gekleidetes Mädchen ziemlich rüpelhaft zur Seite. Für einen kurzen Moment tat mir meine Grobheit leid, doch in meiner trüben Stimmung hielt dieser Gedanke nicht lange an. Was stand das Mädchen auch so ungeschickt mit seinem billigen Koffer in der Gegend herum und versperrte mir den Weg? Zum Teufel mit ihm! Darum knurrte ich das Mädchen an, es solle sich schleichen, nannte dem Kutscher das Ziel der Fahrt, bestieg das Hansom Cab und warf mich in den Polstersitz.
»Ist aber ’n weiter Weg nach Whitechapel«, hörte ich den Kutscher sagen. »Keine Gegend für ’ne hübsche junge Miss. Schon gar nicht im Dunkeln.«
Erstaunt lehnte ich mich nach vorn und schaute aus dem Fenster.
»Danke, Sir! Ich komme schon zurecht«, entgegnete sie.
Ich betrachtete das
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