Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Mädchen und konnte mir nicht recht erklären, warum ich mich für das auf den ersten Blick unscheinbare Ding plötzlich interessierte. Allein die Erwähnung des Stadtteils Whitechapel konnte es kaum sein, auch wenn meine Beziehung zum Londoner East End eine zugegebenermaßen sehr spezielle war. Und ihr Aussehen war es bestimmt nicht. Das Mädchen wirkte wie eine Dienstmagd oder Fabrikarbeiterin. Mit ihren braunen Kleidern und der mausgrauen Haube erinnerte sie mich an ein Aschenputtel. Allerdings hatte sie ein auffallend hübsches Gesicht, zwar allzu blass und schmächtig, aber durchaus anziehend. Vor allem ihre großen dunklen Augen fielen mir auf. Ich ertappte mich bei dem albernen Gedanken, wie das Mädchen wohl in einem Ballkleid und goldenen Pantoffeln aussehen würde.
»Wie alt bist du, Mädchen?«, fragte ich, während ich irritiert aus dem Fenster starrte.
»Sechzehn, Sir.«
»Sechzehn«, wiederholte ich, während sich die Kutsche in Bewegung setzte und ich das Mädchen aus den Augen verlor.
Zum Teufel mit ihr!, schimpfte ich innerlich mit mir. Im nächsten Augenblick hatte ich das Aschenputtel vergessen.
Etwa zwanzig Minuten später hatte sich die Kutsche durch den stockenden und chaotischen Feierabendverkehr bis zur Piccadilly durchgekämpft, und ich betrat im Laufschritt das Hotel meines Vaters, ohne dass sich meine Laune merklich gebessert hätte.
Das Hatchett’s Hotel, das seit Generationen im Besitz meiner Familie war, aber aus Gründen der Tradition und der demonstrativ zur Schau gestellten Bescheidenheit nicht Ingram’s hieß, sondern immer noch den Namen des einstigen Gründers, Abraham Hatchett, trug, war eigentlich ein durchaus erbaulicher Anblick. Das fünfstöckige Haus war erst vor wenigen Jahren von Grund auf renoviert und innen wie außen herausgeputzt worden. Die Fassade war ringsum mit allerlei Ornamenten, verzierten Erkern und barock wirkenden Schweifgiebeln versehen, und auch im Inneren hatte das Hotel neben dem üblichen luxuriösen Interieur alles zu bieten, was der gehobene Gast von einer feinen Adresse im West End erwarten durfte: elektrisches Licht auf allen Zimmern, Telefonanschluss im Salon und in der Lobby sowie ein elektrischer Aufzug, auf den mein Vater besonders stolz war, weil er über automatisch schließende Sicherheitstüren verfügte. Die meisten der Suiten verfügten seit dem Umbau sogar über einen eigenen Wasseranschluss im Bad. Und dennoch hatte ich stets ein mulmiges und unbehagliches Gefühl, wenn ich das Gebäude betrat. Ich hatte meine Kindheit und Jugend in diesem Hotel verbracht, in dem ich mir immer wie ein notgedrungen geduldeter, nicht zahlender Gast vorgekommen war. Überhaupt hatte ich nie begriffen, warum Vater stets darauf bestanden hatte, in seinem Hotel zu wohnen. Von der Miete, die er für die privat benutzten Suiten bekommen hätte, hätte er sich ein eigenes Haus in der Nähe halten können. Doch Vater war mit dem Hotel wie verwachsen, für ihn war das Hatchett’s der Lebensmittelpunkt. Sein Ein und Alles.
»Guten Abend, Sir«, wurde ich von Bellamy, dem alten Hauptportier, in der Lobby begrüßt. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.« Er verneigte sich und nahm mir Mantel und Zylinder ab. »Ihr Herr Vater wartet bereits auf Sie.«
Ich nickte zum Gruß, stellte den Koffer ab und fragte: »Ist er in seinem Büro?«
»In der Beletage. Jawohl, Sir! Soll ich den Koffer hochbringen lassen?«
»Nicht nötig, ich bleibe nur kurz«, wehrte ich ab und schmunzelte. Beletage! Das war typisch für den alten Portier. Mit dem Aufzug gelangte man ohne Probleme bis ins Dachgeschoss, das zudem das hellste aller Stockwerke war, doch für Bellamy war das erste Stockwerk immer noch »die schöne Etage« der Herrschaft.
Während Bellamy die Sachen zur Garderobe im Salon brachte, beeilte ich mich, auf leisen Sohlen an der Rezeption vorbeizuschleichen, an der sich mein ältester Bruder Mortimer gerade mit dem Empfangschef unterhielt. Als ich die breite Treppe, die am Ende der Halle in einem großen Bogen nach oben führte, bereits erreicht hatte, entdeckte er mich doch noch. »Na, du Schürzenjäger, wie war Bury Hill?«, rief er mir nach.
»Ich hab im Krocket verloren«, antwortete ich mit einem schiefen Grinsen.
»Mach dir nichts daraus, man gewöhnt sich daran«, sagte er und hob die Augenbrauen. Es war offenkundig, dass er nicht nur das Krocket meinte. Mortimer hatte – ebenso wie unser gemeinsamer Bruder William – bereits hinter sich
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