Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Eben wie ein Wohnhaus, das vor einigen Jahren notdürftig und ohne großen baulichen Aufwand den neuen Aufgaben angepasst worden war.
Offiziell führte ich gemeinsam mit meinem zweitältesten Bruder William das Hotel, doch in Wirklichkeit überließ ich William nur zu gern und bereitwillig Leitung und Verantwortung und beschränkte meine Tätigkeit aufs Repräsentieren und Parlieren. William war ohne jeden Zweifel der begabtere Geschäftsmann und geschicktere Organisator von uns beiden und hatte mich quasi vom Vater aufs Auge gedrückt bekommen, um mir eine sinnvolle und charakterbildende Beschäftigung zu verschaffen. William hatte sich auf diesen Kuhhandel vermutlich nur deshalb eingelassen, weil er selbst – wie er sehr wohl wusste – auf andere Menschen einen eher spröden und wenig gewinnenden Eindruck machte und sich lieber um die Bücher und Finanzen als um die Klientel und das gesellschaftliche Leben während der lärmenden Londoner Saison kümmerte. In gewisser Weise waren wir Brüder, so grundverschieden wie wir waren, eine Symbiose eingegangen, zum gegenseitigen Nutzen und Vorteil. William, der enorm fleißig war und dem die tägliche Kärrnerarbeit nichts auszumachen schien, war die Seele und das Hirn des Hotels, ich fungierte gewissermaßen als Aushängeschild und Visitenkarte.
Für mich hatte die nicht gerade zeitraubende Tätigkeit im Crown Hotel den Vorteil, dass ich eine eigene, wenn auch recht schlichte Wohnung unter dem Dach besaß, die ich über einen getrennten Zugang zum unbewohnten Dachboden des Hinterhauses betreten konnte, ohne dem Empfangsbereich des Hotels zu nahe zu kommen. Die von William angebotenen Zimmer im ersten Stock hatte ich dankend abgelehnt. Die Mansarde reiche mir vollends, hatte ich mit betonter Bescheidenheit behauptet. Ruhe und Ungestörtheit seien mir wichtiger als eine vorzeigbare Suite oder ein Telefonanschluss. Auch auf elektrisches Licht und fließendes Wasser könne ich gut verzichten. Dass mir die Nähe zu den Dienstmädchen, die, nur durch eine Schiebewand von mir getrennt, im selben Stockwerk wohnten, nicht ganz ungelegen kam und für allerlei Abwechslung zu sorgen versprach, hatte ich tunlichst verschwiegen.
William, selbst ein eher biederer Bürger und Ehemann, schien mich für einen verhinderten Künstler und verkappten Dandy zu halten. Er betrachtete das Wohnen unterm Dach als eine der vielen Marotten seines kleinen Bruders und hinterfragte diese seltsamen Schrullen nicht. Ihm war alles recht, solange ich ihm beim Tagesgeschäft nicht ins Handwerk pfuschte und stattdessen bei den obligatorischen Diners und Empfängen eine gute Figur abgab und das Crown Hotel als junges, aufstrebendes, aber nicht zu kostspieliges Hotel für Geschäftsleute und Familien im Gespräch hielt.
Als ich die winzige Lobby des Hotels betrat, kam mir Gray, einer der beiden Laufburschen, entgegen und begrüßte mich freudig: »’n Abend, Boss.«
»Guten Abend, Sir«, verbesserte ich und schlug dem Jungen mit meinen weißen Handschuhen spielerisch auf den Kopf. »Wann lernst du das endlich, Gray? Du musst auf deinen Mund aufpassen!«
»’tschuldigung, Boss«, antwortete Gray. »Werd’s mir merken. Ist aber nicht so einfach. Mein Mund macht nämlich nicht immer, was ich will, Boss … äh … Sir!«
Ich schüttelte den Kopf und war froh, dass William nicht Zeuge der Begrüßung gewesen war. Auch der kleine Gray war, wenn man so wollte, eine meiner eigenwilligen Marotten. Ich hatte den fünfzehnjährigen Jungen, der eigentlich Graham Maggott hieß, vor einigen Monaten in einer Schänke in Spitalfields aufgelesen und aus einer Laune heraus als Laufburschen und Handlanger fürs Crown Hotel rekrutiert, obwohl er als ungehobelter Schankjunge nicht die geringste Eignung für eine Tätigkeit in einem Hotel im West End besaß. Ich wusste selbst nicht genau, wieso mir der Junge auf Anhieb so ans Herz gewachsen war. Vielleicht war es die unbekümmerte und offenherzige Art des Bengels gewesen, die mich ebenso erstaunt wie erheitert hatte. Womöglich hatte ich aber auch nur Mitleid mit dem Kleinen gehabt, denn Gray war durch ein riesiges, bläulich schimmerndes Muttermal entstellt, das fast seine gesamte linke Gesichtshälfte überzog. Schließlich wusste ich, was es bedeutete, mit einem auffälligen Leberfleck bestraft zu sein. Auch wenn mein Wangenherz nicht annähernd so verunstaltend war wie Grays blaue Gesichtshälfte.
Als mein Bruder den Jungen zum ersten Mal gesehen hatte, war er
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