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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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gebracht, was mir als jüngstem Ingram-Sohn noch bevorstand: Er war von unserem Vater mit Deborah, der Tochter eines Kaffeegroßhändlers aus Chelsea, verheiratet worden. Nun führte Mortimer gemeinsam mit Vater das Hatchett’s, was nichts anderes bedeutete, als dass er kommentarlos abnickte, was der »Herr Vater« beschloss. Er lebte mit Frau und Kindern im ersten Stock, Tür an Tür mit dem Patriarchen. In der Beletage!
    »Hast du Mr. Barclay die Pläne vorgelegt?« Mortimer strich sich über den Schnurrbart, der direkt unter der Nase eine seltsame Lücke aufwies, als wäre er beim Rasieren mit der Klinge abgerutscht.
    »Für das Kaffeehaus?«, fragte ich und nickte im selben Augenblick. »Er will es sich überlegen, aber er schien nicht begeistert von der Vorstellung, seinem Anchor Pub an der Themse selbst Konkurrenz zu machen.«
    »Es wäre keine Konkurrenz«, erwiderte Mortimer beleidigt. »Ein Kaffeehaus ist keine Kneipe. Ich hoffe, du hast ihm das erklärt, Rupert!«
    »Ja, das hab ich«, versicherte ich ihm. Es ist vor allem keine gute Idee, setzte ich in Gedanken hinzu. Schon gar nicht in Southwark, wo hauptsächlich Fabrikarbeiter und Seeleute wohnten. Mortimers Welt schien immer noch die des 18. Jahrhunderts zu sein, als gediegene Kaffeehäuser en vogue gewesen waren und unser Urahn Jeremiah Ingram mit einem solchen Coffee House an der Piccadilly den Reichtum der Familie Ingram begründet hatte. Heutzutage entstanden überall in der Stadt lärmende Vergnügungspaläste und mehrstöckige Music Halls, in denen sich sowohl die Gutbetuchten als auch einfache Leute unter einem Dach tummelten – wenn auch auf verschiedenen Etagen. Doch für Mortimer lag die Zukunft nach wie vor im distinguierten Kaffeeplausch, als wäre London niemals aus dem vorindustriellen Dornröschenschlaf erwacht. Vielleicht hatte ihn aber auch sein Schwiegervater, der Kaffeehändler, in dieser Hinsicht bearbeitet.
    »Er lässt es sich durch den Kopf gehen«, wiederholte ich, obwohl ich wusste, dass Mr. Barclay die Pläne längst als altmodischen Unfug abgetan hatte.
    Mortimer machte ein mürrisches Gesicht und knurrte: »Vater wartet …«
    »… bereits auf mich«, setzte ich den Satz fort und nickte. »Ich weiß.«
    Ich lief die breite Treppe hinauf und wurde vom Etagendiener mit einem Bückling begrüßt. Bereits als ich mich dem Büro am Ende des Flurs näherte, hörte ich die Stimme meines Vaters durch die von innen mit dickem Stoff beschlagene Flügeltür. Wenn Harvey Ingram derart brüllte, dass man ihn im ganzen Hotel hörte, konnte das nur eines bedeuten: Er telefonierte!
    »So kann das mit dem Jungen nicht weitergehen!«, hörte ich meinen Vater poltern. »Wir müssen ihn endlich zur Vernunft bringen! … Mag sein, aber das ändert doch nichts, oder hattest du bisher den Eindruck? Er führt sich auf wie ein Halbwüchsiger! … Hoffen wir’s! … Ich weiß mir einfach keinen Rat mehr! Wenn eure Mutter doch nur noch leben würde!« Dann folgten ein bitteres Lachen und ein Stoßseufzer: »Sonst müssen es die Barclays eben richten!«
    Ich schluckte und überlegte, ob ich noch länger horchen oder mich schleunigst verdrücken sollte, doch dann klopfte ich zweimal fest an die Tür und trat im selben Augenblick ein.
    »Oh, Rupert!«, rief mein Vater überrascht, fuhr hinter seinem Schreibtisch in die Höhe und räusperte sich. »Gut, dass du da bist, mein Junge. Ich sprach gerade mit William über dich.« Er hängte den Hörer an den Haken, ohne sich zuvor von meinem Bruder verabschiedet zu haben.
    »Das war nicht zu überhören. Deine Stimme schallt über den gesamten Flur.« Ich deutete auf den klobigen Tischapparat, der beinahe die Hälfte des Schreibtisches einnahm, und setzte grienend hinzu: »Das ist ein Telefon, Vater, und keine Sprachtrompete. Wenn du in dieser Lautstärke schreist, kann William dich in der Dover Street auch ohne elektrischen Transmitter hören.«
    »Sicher, mein Junge, sicher.« Er fuhr sich nachdenklich mit der rechten Hand durch seinen imposanten grauen Vollbart. »War’s schön in Dorking? Wie geht’s Meredith? Sind alle wohlauf in Bury Hill? Hast du mit Mr. Barclay gesprochen?«
    Da ich nicht wusste, auf welche der hastig vorgetragenen Fragen ich antworten sollte, nickte ich lediglich und harrte der Dinge. Ich warf einen flüchtigen Blick auf das großformatige Gemälde, das mein Vater vor einigen Jahren, kurz nach dem Tod unserer Mutter, direkt über seinem Schreibtisch hatte anbringen

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