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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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vor Zorn beinahe explodiert und hatte »die hässliche Fratze«, wie er ihn nannte, aus dem Haus werfen wollen. Doch ich hatte darauf bestanden, dem Jungen eine Chance zu geben, und meinen Bruder schließlich mit dem Argument geködert, einem Burschen wie Gray nur die Hälfte des üblichen Lohns zahlen zu müssen. Gray hatte seine Chance bekommen und sie wider Erwarten genutzt, denn was ihm an Bildung, Manieren und Höflichkeit abging, das machte er mit Eifer und unbedingter Ergebenheit wett. Und der halbe Lohn war immer noch um einiges höher als das Hungergeld, das er zuvor im Ten Bells Pub verdient hatte.
    »Wo ist mein Bruder?«, wandte ich mich an den Laufburschen.
    »In der Küche«, antwortete Gray. »Er streitet mit dem Metzger über die Rechnung. Der Boss sagt, dass Mr. Morrison ihn übern Tisch gezogen hat, und Mr. Morrison sagt, dass der Boss ihn übern Tisch ziehen will.« Er zwinkerte mir verschwörerisch zu und meinte: »Ich glaube, der Metzger hat recht und der Boss wird ’nen ordentlichen Rabatt raushandeln.«
    »Sähe ihm ähnlich«, bestätigte ich lächelnd und wurde im nächsten Moment ernst. »Warum bist du überhaupt hier vorne, Gray? Du weißt doch, dass du dich nicht ungefragt in der Lobby blicken lassen sollst.« Ich schaute zur Rezeption, die jedoch in diesem Augenblick nicht besetzt war, und befahl: »Scher dich ins Dienstbotenzimmer, bevor dich jemand sieht!«
    Gray schaute zu Boden, als wollte er sein Gesicht verstecken. »Ich hab Sie kommen sehen und wollte nur Bescheid geben, dass der Verrückte wieder da war und nach Ihnen gefragt hat.«
    »Welcher Verrückte?«
    »Der Verrückte von St. Giles. Der bärtige Glatzkopf mit den komischen Augen und den bunten Fingern.« Er blickte kurz auf und gleich wieder nach unten. »Er hat gesagt, er hat was für Sie. Und Sie sollen’s sich gleich anschauen. Er ist heut Abend am üblichen Ort, hat er gemeint.«
    »War er nüchtern?«
    »Gezittert hat er wie Espenlaub«, sagte Gray. »Scheint lange nichts getrunken zu haben. Hat gesagt, es wär eilig. Und es würd sich für Sie lohnen.«
    »Danke, Gray«, erwiderte ich und schüttelte abwehrend den Kopf, als er mir Mantel und Hut abnehmen wollte. »Das bleibt unter uns. Verstanden?«
    »Jawohl, Boss! Wie immer.«
    Auf Grays Loyalität und Diskretion konnte ich mich verlassen. Nicht zum ersten Mal beglückwünschte ich mich zu dem Einfall, den sonderlichen Jungen ins Crown zu holen. Obwohl ich so gut wie nichts über ihn und seine Herkunft wusste, war Gray Maggott mir in gewisser Weise ein Vertrauter geworden, jedenfalls in Angelegenheiten, die das Tageslicht scheuten und von denen meine Familie nichts wissen durfte. Der verrückte Simeon gehörte eindeutig zu dieser Art von Angelegenheiten, auch wenn er nicht halb so verrückt war, wie Gray offensichtlich glaubte.
    »Und jetzt schleich dich!«
    Der Junge verschwand mit einem Bückling in Richtung Dienstbotenzimmer, das sich direkt neben der verwaisten Rezeption befand, und auch ich hatte es eilig, hinauf in meine Mansarde zu gehen, mich frisch zu machen und umzuziehen. Mit Zylinder, Weste und Gehrock konnte ich mich unmöglich in den Kneipen von St. Giles blicken lassen.
    Als ich die unbequeme Kleidung abgelegt hatte und in Hemd und Unterhose in meinem Arbeitszimmer stand, das nur unwesentlich geräumiger war als die winzige, spitz zulaufende Schlafkammer nebenan, fiel mein Blick auf das Buchregal neben dem Schreibtisch, und erneut überfiel mich die schlechte Laune, die mich schon auf der Rückfahrt von Dorking gequält hatte. Zwar waren die Fächer im Regal leidlich mit gebundenen Büchern und einigen preiswerten Yellow Backs gefüllt, doch der Gedanke an den Schatz, den ich heute Nachmittag in den Händen gehalten hatte und der nun weiterhin in der Bibliothek von Bury Hill verstaubte, vergällte mir beinahe die Freude an der Literatur. Als ich mit Mr. Barclay rauchend in der Bibliothek gestanden und mich über Bier, Southwark und Mortimers alberne Kaffeehaus-Pläne unterhalten hatte, war mir ein mit goldenem Blütenmuster verziertes Buch im Regal aufgefallen, das sich merklich von den übrigen Groschenromanen und gängigen Klassiker-Nachdrucken unterschied, die sich im Bücherschrank der Barclays sonst so tummelten. Während Mr. Barclay von seinen Geschäftsideen, seiner florierenden Brauerei, seinem noch minderjährigen Sohn und irgendwelchen Umbauten auf dem Werksgelände in Southwark faselte und ich eifrig dazu nickte, obwohl ich gar nicht

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