Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
prickelndes und elektrisierendes Gefühl. Auch wenn das Aufwachen am nächsten Morgen oft mit Ekel oder Schamgefühl verbunden war. Und mit einem bösen Kater obendrein.
Simeon hatte einmal gesagt, ich müsse kein Schauspieler mehr werden, weil ich längst einer sei. Ein ziemlich überzeugender sogar. Und die Huren, der Pöbel und die Gauner in den Slums seien mein unwissendes Publikum. Auch er sei einmal ein solcher Schwindler und eitler Narr gewesen, doch dummerweise gehöre er nun tatsächlich auf die andere Seite und müsse nicht länger nur so tun, als sei er ein Teil des Londoner Abschaums.
Der Gedanke an Simeon ließ mich zusammenfahren. Rasch zog ich die schwarze Zimmermannskleidung an, die ich in einem Weidenkoffer unter dem Bett versteckt hatte, verließ meine Wohnung über den Dachbodenausgang und trat, den Schlapphut tief ins Gesicht gezogen, in den unbeleuchteten Hof, von dem aus mehrere gemauerte und überdachte Passagen in unterschiedliche Richtungen führten. Einer dieser schmalen Durchlässe führte zur kleinen Kapelle von St. George, und von dort zweigte ein weiterer Schleichweg zur viel befahrenen Bond Street ab, wo ich einen Omnibus in Richtung Holborn bestieg. Dass auf dem Oberdeck des Busses für eine neue Bierkreation meines zukünftigen Schwiegeronkels geworben wurde, kam mir wie ein schlechter Scherz vor.
3
The Rookery Inn war eine ebenso unbedeutende wie unscheinbare Kneipe am nördlichen Ende der Drury Lane. Nicht so heruntergekommen und schäbig wie manch anderer Pub in St. Giles, aber auch nicht gerade vornehm oder respektabel zu nennen. Ihren seltsamen Namen hatte die Kneipe nach der Bezeichnung des berüchtigten Armen- und Gaunerviertels, das bis vor wenigen Jahrzehnten rund um die Kirche von St. Giles-in-the-Fields bestanden hatte. Die Rookery war zum Synonym für Hurerei, Alkohol, Glückspiel und Verbrechen aller Art geworden, und auch wenn man einen Großteil des Slums abgerissen hatte, um die New Oxford Street zu errichten und die Gegend auf diese Weise aufzuwerten, hatte St. Giles seinen zwielichtigen Ruf damit keineswegs verloren. Es wimmelte immer noch von Kneipen und Bordellen, und statt der obszönen Kellertheater und verruchten Wetthöhlen von einst gab es nun das Arbeitshaus in unmittelbarer Nachbarschaft.
Die Nähe zum Arbeitshaus war der Grund, warum Simeon sich mit Vorliebe im Rookery Inn verabredete, denn in dem Armenhaus der Gemeinde wohnte er als einer der vielen Besitz- und Obdachlosen, die sich keine eigene Wohnung leisten konnten. An diesem Ort erhielten all jene, die einer geregelten Tätigkeit nachgingen, ein Bett in einem der riesigen Schlafsäle und zwei dünne Mahlzeiten pro Tag. Das Arbeitshaus bot Simeon die Möglichkeit, weitgehend unbehelligt als Künstler zu arbeiten, denn ob er nun Bilder und Zeichnungen anfertigte oder sonstige Tätigkeiten wie Wergzupfen oder Steineklopfen verrichtete, war den Leitern und Aufsehern des Hauses herzlich egal. Ihnen ging es nur darum, die Ärmsten der Armen von der Straße fernzuhalten und irgendwie zu beschäftigen, damit sie nicht auf dumme oder gar umstürzlerische Gedanken kamen. Dass Simeon einst ein gefeierter und weithin bekannter Maler gewesen war, war den Aufsehern vermutlich nicht einmal bekannt. Sie sahen in ihm, was alle in ihm sahen: einen Trinker und Nichtsnutz. Für harte körperliche, möglicherweise sogar gewinnbringende Arbeit taugte er in ihren Augen nicht, also ließen sie ihn mit seinen Bildern gewähren und waren froh, wenn er ihnen keinen Ärger bereitete.
Das Rookery Inn war an diesem Donnerstag nur mäßig gefüllt. Einige Arbeiter aus den vielen schäbigen Hinterhoffabriken und Handwerksbetrieben, die sich im verwinkelten St. Giles regelrecht vor dem grellen Tageslicht verschanzten, hockten an der Theke und beachteten mich kaum, als ich mit gesenktem Kopf die Kneipe betrat. Simeon war noch nicht anwesend, und so setzte ich mich in eine dunkle Ecke des Schankraums, bestellte beim Wirt ein Pint Porter und wartete. Wie so oft betrachtete ich die kleine Kreidezeichnung, die hinter dem Tresen an der Wand hing und das Rookery Inn darstellte. Oder besser gesagt, ein idealisiertes und fast heimelig wirkendes Abbild der Kneipe, das zugleich etwas Ironisches oder Augenzwinkerndes ausstrahlte. Simeon hatte das Bild gezeichnet, um damit einen Teil seiner Trinkschulden beim Wirt zu bezahlen. Und eine realistische Darstellung des Hauses hätte ihm womöglich weniger Schuldenerlass eingebracht.
Was
Weitere Kostenlose Bücher