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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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rechten Seite. Der Name des dahinterliegenden Yards war über dem Durchgang in die Mauer eingelassen, doch es war so dunkel, dass ich ihn nicht lesen konnte.
    »Hier ist Miller’s Court«, sagte Edmund und räusperte sich mehrmals. Dieses Räuspern schien eine Marotte von ihm zu sein. »Bitte einzutreten.«
    Der schmale und niedrige Torbogen führte durch das Backsteingebäude an der Dorset Street zu einem rechtwinkligen Hof, der von einer flackernden Gaslaterne auf der linken Seite beschienen wurde. Ich ließ Edmund vorangehen und folgte ihm in gehörigem Abstand, wobei ich immer wieder nach hinten schaute, in ständiger Erwartung eines Angriffs. Wenn sie mich überfallen wollten, bot der rabenschwarze Durchgang die beste Gelegenheit dazu.
    »Keine Bange«, sagte Edmund, als er unter der Gaslaterne stand und mit einer Kopfbewegung auf den verwinkelten Yard deutete, »ich bin nicht der Ripper.«
    »Und ich bin keine Frau«, sagte ich und zwang mich zu einem Lachen.
    »Stimmt genau!« Er räusperte sich und starrte zu Boden, als wäre ihm mein Anblick unangenehm. Wie ein Hund vermied er den direkten Augenkontakt und schien sich wie ertappt zu fühlen, wenn sich unsere Blicke dennoch kreuzten. Ich schätzte ihn auf mindestens vierzig Jahre, doch in seinem unsicheren und fahrigen Verhalten erinnerte er mich an ein Kind.
    »Keine Frau«, wiederholte er und wies nach links auf ein zweistöckiges Gebäude, von dem mehrere Türen zum Hof gingen. »Dahinten wohn ich. Letzte Tür. Nummer fünf im Erdgeschoss. Gleich dahinter ist der Abtritt. Die Pumpe ist hier vorne. Wasser gibt’s morgens und abends.« Er deutete nach rechts, wo der Hof wie bei einem Wurmfortsatz eine Sackgasse bildete und an der Wand des Nachbarhauses endete. »Und dort wohnen Joseph und Mary Jane«, setzte er hinzu und schaute zu einer Wohnung gleich neben der Pumpe.
    »Mary Jane?«, wunderte ich mich.
    »Die Leute nennen sie Ginger, wegen ihrer rotblonden Haare.« Wieder räusperte er sich, dann ging er geradeaus zur Nummer fünf, schloss die Tür auf und verschwand. Nur wenig später kam er mit einer brennenden Kerze wieder heraus und deutete zum Ende des Yards, wo sich der Abort befand. »Der Eingang ist um die Ecke«, sagte er und ging voraus.
    Wieder schaute ich zurück und wartete auf einen Hinterhalt, doch nichts geschah, kein Ton war zu hören, niemand erschien. Edmund hatte inzwischen eine kleine Tür auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes geöffnet, die vom Hof aus gar nicht zu sehen war. Mit der Kerze leuchtete er hinein, und als ich ihm über die Schulter schaute, erkannte ich, dass es sich um eine Art Verschlag oder Lagerraum handelte.
    »Das Zimmer hat kein Fenster«, sagte ich verwundert.
    »Wozu auch?«, antwortete Edmund und betrat die Kammer. »Oder brauchst du ’nen Ausblick aufs Scheißhaus?«
    »Und keinen Kamin«, fügte ich hinzu und schaute mich ratlos in dem winzigen Kabuff um. Lediglich ein Bett stand an der hinteren Wand und ein kleiner Tisch neben der Tür. Ein Hocker diente gleichzeitig als Stuhl und Nachttisch. Mehr Möbel hätten auch gar nicht hineingepasst.
    »Der Kamin ist auf meiner Seite«, sagte er, stellte die Kerze auf dem Tisch ab und befühlte die hintere Backsteinmauer, an der das Bett stand. Es war die einzige Steinwand in diesem Anbau, die restlichen Wände waren aus Holz gezimmert, und der Boden bestand aus gestampfter Erde. »Die Wand ist so warm, dass du gar nicht heizen musst«, fügte Edmund hinzu und klopfte auf die Backsteine. »Spart Geld.«
    »Das ist kein Zimmer, sondern ein Bretterverschlag«, meinte ich und schüttelte den Kopf. »Was war das früher? Der Brennholzschuppen?«
    »Meinetwegen«, sagte Edmund und verdrehte die Augen. »Sagen wir drei Shilling Sixpence.«
    Ich verharrte stumm und regungslos.
    »Na gut! Drei Shilling. Und du kriegst noch ’ne Waschschüssel und eine Decke fürs Bett«, setzte er hinzu und kam einen Schritt näher. »Die Matratze ist wie neu.«
    »Wer hat hier vorher gewohnt?«, wollte ich wissen.
    »Long Liz ist hier oft untergekommen, wenn sie betrunken war oder wenn Michael sie mal wieder verdroschen hat«, sagte Edmund und schaute zu Boden. »Oder wenn sie ’nen Freier hatte, der’s nicht im Freien mit ihr treiben wollte.«
    »Long Liz ist eine Hure?«, fragte ich.
    »Sie war eine«, knurrte Edmund und schüttelte den Kopf, als hätte ich etwas Dummes gesagt. »Sie ist nämlich tot. Liest du keine Zeitung?«
    »Du meinst …?«, setzte ich an, brachte die

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