Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
war, so albern und selbstgerecht ich ihre Botschaft und ihr Auftreten fand, es war mir dennoch aus unerfindlichen Gründen wichtig, dass sie keine schlechte Meinung von mir hatte. Und ich musste an Simeons scherzhafte Worte denken: »Dich hat’s ja mächtig erwischt.«
Gleichzeitig jedoch stieg Wut in mir hoch. Wie am Nachmittag auf der Blackfriars Bridge fühlte ich mich mit einem Mal wieder ungerecht behandelt. Was bildete diese Frau sich ein, mich ohne Grund zu beschimpfen und zu ohrfeigen? Wie kam sie dazu, mich einen Satan zu nennen? Das war nicht akzeptabel, und es entbehrte jeder Grundlage! Auch gegen Simeon spürte ich einen plötzlichen Groll. Wieso sprach er mir die Fähigkeit ab, für mich selbst zu sorgen, ohne mir wenigstens die Gelegenheit zu geben, das Gegenteil zu beweisen? Wie gering schätzte er mich, dass er mich einen gelangweilten Bengel nannte? Wie kam er – ausgerechnet er! – dazu, mich von oben herab zu behandeln und wie einen dummen Schuljungen zu belehren? Ich würde ihnen schon noch beweisen, dass sie sich in mir täuschten. Ihm und ihr. Allen! Sie würden sich noch wundern.
»Entschuldigung?«, hörte ich eine tiefe Männerstimme neben mir.
Ich fuhr aus meinen Gedanken auf, wandte mich zur Seite und schaute in ein bärtiges Gesicht.
»Ja?«, fragte ich.
»Ich hab vorhin zufällig dein Gespräch mit deinem Kumpel mit angehört«, sagte der Mann. Es war der vollbärtige Kerl vom Nachbartisch. Sein Freund Joseph, der Zuhälter der Hure Ginger, schien den Pub inzwischen verlassen zu haben. Und auch der Vollbart hatte seine Seemannsjacke angezogen und die Schiebermütze auf dem Kopf.
Wieder sagte ich: »Ja?«
»Du suchst ’ne Bleibe?«
»Kann sein.«
»Nur für die Nacht oder länger?«
»Kommt drauf an.«
»Hab vielleicht was für dich. Gleich um die Ecke, in der Dorset Street.« Er räusperte sich, wartete auf eine Antwort, die ich ihm aber nicht gab, und setzte dann hinzu: »Ich hab ’n freies Zimmer. Nach hinten raus.«
»Zur Untermiete?«, fragte ich und schüttelte bedauernd den Kopf. »Danke, aber ich such eigentlich was Eigenes.«
»Das Zimmer hat ’nen eigenen Eingang, hinten raus zum Hof«, sagte er und trat unruhig auf der Stelle, als müsste er dringend aufs Klo. »Und es kostet dich fast nichts. Vier Shilling die Woche.«
»Gleich um die Ecke?«, fragte ich. Eigentlich hatte ich mir überlegt, in einem der vielen Logishäuser im East End oder in einer billigen Pension zu übernachten, denn in meine Mansarde in Mayfair zurückzukehren, kam für mich nicht in Frage. Aber ein Zimmer in unmittelbarer Nähe war auch nicht zu verachten.
»Kannst es dir ja mal anschauen«, sagte er und wich meinem Blick aus, während er mir gleichzeitig seine Hand entgegenstreckte. »Mein Name ist Edmund.«
Statt seine Hand zu nehmen, stand ich auf, steckte die beinahe leere Ginflasche in die Jackentasche und sagte: »Anschauen kostet ja nichts.«
»Genau«, meinte er und räusperte sich. »Wie bei den Huren.«
»Was?«
»Anschauen«, sagte er und hielt mir die Tür auf. »Kostet nichts.«
8
Vermutlich wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dem Kerl zu folgen, wenn ich nicht so aufgebracht und zugleich verwirrt gewesen wäre. Doch der Gedanke an Simeons abfällige Worte und Eva Booths unerklärliche Ohrfeige ließen mich dem Mann namens Edmund unbedacht hinterhertapsen wie ein trotziges Kind auf der Suche nach Abenteuern. Dass er mich ausrauben wollte, schien mir nicht sehr wahrscheinlich, denn selbst wenn er mir einen falschen Namen genannt hatte, kannte ich die Namen seines Freundes Joseph und der Hure Ginger. Wenn er also an mein Geld wollte, musste er mich schon umbringen, um nicht anschließend überführt zu werden. Was allerdings auch nicht gerade ein beruhigender Gedanke war.
Die Dorset Street, die direkt neben dem Britannia Pub von der Commercial Street weg in westliche Richtung führte, war eine ebenso schmale wie düstere Gasse. Links und rechts wurde sie von dreistöckigen, meist reichlich verwahrlosten Backsteinhäusern gesäumt, in denen sich verschiedene Armenunterkünfte und billige Absteigen befanden. Die Straße war kaum beleuchtet und so eng bebaut, dass das Licht des Vollmonds nur die oberen Stockwerke streifte, dennoch erkannte ich, dass eine Großzahl der Fenster im Erdgeschoss mit Brettern verbarrikadiert oder mit Tuch verhangen war. Bereits nach wenigen Schritten blieb mein seltsamer Begleiter stehen und deutete auf einen winzigen Torbogen auf der
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