Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
hatte, wo es mir schon einmal begegnet war. Deshalb setzte ich hinzu: »Aber die Bretterwand ist sehr dünn. Und Edmund hat dich gestern erwähnt.«
»Hat er das?«, knurrte Michael. Dennoch klang er beinahe erleichtert.
Edmund starrte auf seine Finger und murmelte: »Wegen Liz.«
»Was ist mit der?«, schnauzte Michael.
»Nichts«, sagte Edmund verängstigt und räusperte sich. »Was soll sein?«
»Was ist mit der Pumpe?«, fragte ich, weil kein Wasser aus dem Rohr kam, und rüttelte an dem Schwengel, der lose in der Halterung saß. »Ist die kaputt?«
»Wasser ist rationiert«, antwortete Edmund. »Halbe Stunde bei Sonnenaufgang, halbe Stunde bei Sonnenuntergang. Weißte das nicht?«
»Doch«, log ich. »Dachte, es wär noch nicht so spät.«
Joseph zog den Rotz hoch und fragte: »Du warst gestern im Britannia, oder? Du und der alte Zottel.«
Die Bezeichnung Zottel gefiel mir, und ich musste lachen. Was jedoch wegen der Wunde an meinem Muttermal sehr schmerzhaft war.
»Schluss mit dem albernen Geplauder!«, rief Michael und deutete mit einer Kopfbewegung zur Straße. »Wir müssen los.«
»Zu den Docks«, erklärte Edmund in meine Richtung, wobei er sich jedoch eher mit meinen Füßen unterhielt, und fuhr sich über den Vollbart. »Unten am Hafen.«
»Arbeitet ihr drei dort?«
»Was denn sonst?«, bellte Michael. »Glaubst du, wir sitzen am Kai, lassen die Beine baumeln und schauen uns die verdammten Dampfer an?« Zischend setzte er hinzu: »Schwachkopf!«
Ich zuckte mit den Schultern, betastete den Blutschorf an meinem Muttermal und schaute ihnen nach. Als die drei den dunklen Durchgang betraten, sah sich Michael ein letztes Mal zu mir um. Sein finsterer Blick versprach nichts Gutes. Er wirkte beinahe wie eine Drohung. Offenbar hatte ich mir einen Feind gemacht, ohne im Mindesten zu wissen, wieso und womit.
»Nimm’s nicht persönlich!«, hörte ich in diesem Augenblick eine irisch klingende Frauenstimme hinter mir. Ginger stand im Eingang ihrer Wohnung, die sich direkt neben der Passage zur Dorset Street befand. »Michael ist immer so«, setzte sie abfällig schnaufend hinzu. »Ein verdammter Wüterich. Geh ihm am besten aus dem Weg!«
»Morgen, Ginger«, sagte ich und wandte den Blick ab, weil sie im weit geöffneten Unterkleid vor mir stand. »Wohnt dieser Michael auch im Hof?«
»Nee«, antwortete sie. »Vorne in der Dorset Street. Nur ein paar Häuser weiter.« Plötzlich lachte sie, schüttelte ihre rote Mähne, knöpfte kokett ihren Ausschnitt zu und rief: »Kannst ruhig hingucken, Süßer. Gucken kostet nichts.«
»Lässt du Edmund auch immer gucken?«, entschlüpfte es mir. »Umsonst?«
»Was meinst ’n damit?«, rief sie mit finsterer Miene. »Hat er das behauptet? Edmund ist ein armer Tropf. Solltest ihm nicht alles glauben!«
Es war offenkundig, dass ich mit meiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. »Ich hab nur laut gedacht«, sagte ich und lachte. »Denken kostet auch nichts.«
»Überlass das Denken den Pferden«, antwortete sie und drohte spielerisch mit dem Zeigefinger. »Die haben ’nen größeren Kopf.«
Ich nickte, ging einen Schritt auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Ich heiße übrigens Rupert. Ich wohne jetzt in der Bretterbude beim Scheißhaus.«
»Rupert?«, wunderte sie sich und schüttelte meine Hand. »Komischer Name.«
»Kommt aus dem Deutschen, glaube ich.«
»Bist du ein Jude?«
»Wär das schlimm?«
Sie hob die Achseln, dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Ist mir egal, solange mich keiner bekehren will. Und nackig sehen sie eh alle gleich aus. Obwohl, bei den Juden …« Sie machte eine Scherenbewegung mit Zeige- und Mittelfinger und setzte grinsend hinzu: »Schnipp, schnapp!«
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sie damit meinte. Dann nickte ich erneut, räusperte mich und wandte mich ab. »Bis dann«, sagte ich und ging in Richtung meines Verschlags. Das Stichwort »bekehren« hatte mich auf eine Idee gebracht.
10
Die Queen Victoria Street führte vom Mansion House des Lord Bürgermeisters in südwestlicher Richtung zum neu errichteten Bahnhof St. Paul’s, gleich neben der Blackfriars Bridge. Die großzügig und breit angelegte Straße war erst vor wenigen Jahrzehnten gebaut worden, um den Verkehr zum Bankendistrikt in der City zu bündeln und den Straßenlärm von der nahe gelegenen Kathedrale fernzuhalten. Dass das Hauptquartier der Heilsarmee ausgerechnet an dieser prominenten Straße, sozusagen in Reichweite
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