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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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für den Monat, verriegelte die Tür hinter ihm, verkantete den Stuhl unter der Klinke und legte mich in Jacke und Hose aufs Bett. Die Kerze stellte ich auf den Boden und ließ sie brennen.
    Ich weiß nicht genau, wie lange ich wach lag, auf die leisesten Geräusche achtete und zur Bohlendecke starrte, die sich im flackernden Kerzenlicht zu bewegen schien. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf, die seltsamen Ereignisse des Tages zogen wie in einer Narrenparade an mir vorbei, doch nachdem ich meine Unruhe und Aufregung mit einigen großen Schlucken aus der Ginflasche gedämpft hatte, fielen mir schließlich die Augen zu.
    Irgendwann in der Nacht wurde ich durch eine laute Stimme geweckt. Auf der anderen Seite der Steinwand rief Edmund: »Nein, ich bin unschuldig! Ich war’s nicht. Ich war dagegen! Nein!« Auch er schien eine unruhige Nacht zu verbringen.
    Dann war alles wieder still.

SAMSTAG, 20. OKTOBER 1888
    9
    Am nächsten Morgen riss mich ein lautes Lachen aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch, doch weil das Zimmer kein Fenster hatte und die Kerze längst niedergebrannt war, war es stockfinster im Raum. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo ich mich befand und wie ich hergekommen war. Wieder lachte jemand schallend. Es hörte sich beinahe so an, als stünde derjenige direkt neben meinem Bett.
    »Hast die Bruchbude also tatsächlich untergebracht?«, rief der Lachende.
    »Nicht so laut, Michael«, mahnte eine tiefe Stimme, die ich sofort als die meines bärtigen Vermieters erkannte. »Der Kerl kann uns doch hören. Die Bretterwand ist sehr dünn.«
    »Wem sagst du das!«, amüsierte sich der andere. »Der wird sich noch den Arsch abfrieren, wenn’s erst mal richtig kalt wird. Sei froh, dass es heute Nacht nicht geregnet hat, sonst wärst du das feuchte Loch nie losgeworden. Wie heißt ’n der Bursche?«
    »Keine Ahnung«, sagte Edmund. »Hat mir seinen Namen nicht gesagt.«
    »Komisch, oder?«
    »Kann mir egal sein, hat ja für ’nen Monat im Voraus bezahlt.«
    »Einen Monat im Voraus?« Das Lachen des anderen Mannes nahm einen hämischen Unterton an. »Was ist denn das für ’n Schwachkopf?«
    »Psst«, machte Edmund, konnte sich das Lachen aber ebenfalls nicht verkneifen. Es folgte eine kurze Stille, dann sagte er: »Ah, da ist Joseph.«
    »Morgen, du Schlafmütze!«, rief der Mann namens Michael. »Wurde auch Zeit. Du wirst es nicht glauben, aber ihr habt ’nen neuen Nachbar.«
    »Macht nicht so ’nen Lärm«, sagte eine krächzende und verkatert klingende Männerstimme. »Ginger schläft noch.«
    »Einträgliche Nacht?«, fragte Edmund.
    »Will ich hoffen«, antwortete Joseph mürrisch. »Hauptsache, sie hat nicht wieder alles versoffen. Wär nicht das erste Mal.«
    Ich hatte mich inzwischen aufgerappelt und zum Eingang vorgetastet. Nachdem ich den Stuhl beiseitegestellt hatte, öffnete ich die Tür und trat hinaus. Der Morgen dämmerte bereits, der Himmel leuchtete gelblich vom Rauch der Schlote, aber in dem engen Hof war es trotzdem noch immer so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Als ich um die Ecke schaute, sah ich die drei Männer vor Edmunds Tür stehen. Die Gaslaterne war noch an und warf lange, zitternde Schatten auf die Erde.
    »Na, gut geschlafen?«, fragte Edmund und zog sich die Schiebermütze tief in die Stirn, als hätte er Angst, ich könnte ihm ins Gesicht schauen.
    »Erstaunlicherweise ja«, antwortete ich und stapfte zur Wasserpumpe.
    »Die Matratze ist wie neu«, sagte Edmund stolz. »Hab ich ja gesagt.«
    Während ich an den Männern vorbeiging, betrachtete ich flüchtig den einzigen mir unbekannten Mann in der Runde. Er wirkte untersetzt, trug einen schäbigen Bowler, seine Jacke war an den Ellbogen zerschlissen und die Hose an den Knien mit großen Lederflicken besetzt. In seinem aufgedunsenen Gesicht wucherte ein buschiger Schnauzbart unter der Nase, und seine wulstigen Lippen bogen sich zu einem abschätzigen Grinsen. Als sich unsere Blicke kreuzten, verfinsterte sich seine Miene plötzlich und seine hohe Stirn wurde von tiefen Falten zerfurcht. Er sah mich lauernd an, als erwartete er eine Attacke oder als wäre er vor irgendetwas auf der Hut.
    »Du bist Michael, nicht wahr?«, fragte ich, während ich ihnen den Rücken zuwandte und den Pumpenschwengel bewegte.
    »Kennen wir uns?«, antwortete er, ließ es aber nicht wie eine Frage klingen.
    »Nicht dass ich wüsste«, sagte ich, obwohl mir sein Gesicht irgendwie bekannt vorkam, ohne dass ich jedoch eine Ahnung

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